Die Geschichte meines Jakobsweges:
Camino Francés: (Pamplona – Santiago de Compostela): Mai 2008 --- geschrieben Oktober 2010

Via de la Plata (Sevilla – Salamanca): April/Mai 2010 --- geschrieben Dezember 2010

Via de la Plata (Salamanca – Santiago – Muxia): April/Mai 2011 --- geschrieben Mai/Juni 2011

Camino del Norte: (Hondarribia – Gurriezo): Juni 2012 --- geschrieben Juli 2012

Camino Primitivo (Oviedo - Santiago de Compostela): Mai 2014 --- geschrieben Mai bis September 2014

Camino Ingles 2017 Camino Portugues 2022

Kein Schlußwort, eher ein Zwischenbericht

Ich habe mein Ziel, Santiago de Compostela, erreicht.
Es war eine wunderbare Zeit, reich an Eindrücken, Erfahrungen und Erlebnissen. Aber wie ich es für mich immer empfinde: Der Weg geht weiter und ist nicht an der Kathedrale von Santiago zu Ende.
Vieles habe ich auf dem Weg gelernt. Ich weiß, dass ich viel stärker bin, als ich es von mir vermutet hätte.
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Ich habe tolle Menschen getroffen, viele bereichernde Gespräche geführt, gemeinsam gelacht, geweint und geschwiegen.
Nie hätte ich gedacht, dass der Weg einen so tiefen Eindruck in mir hinterläßt. Jeder Schritt hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt und ich bin froh um diese Erinnerungen. Ich freue mich über jedes Foto, dass ich auf dem Weg gemacht habe, aber die Bilder sind alle in meinem Kopf. Nie werde ich die grünen Felder, die Sonne, den Regen und Matsch, die Farben und Menschen vergessen.
Ich habe erlebt, dass das persönliche Umfeld sehr interessiert an den Reiseerlebnissen ist, aber verstehen was in einem vorgeht, können nur die, die den Weg selbst gegangen sind.
Nach meiner Rückkerh in den Alltag habe ich ganze drei Wochen lang geglaubt, dass ich genug für den Rest meines Lebens gelaufen bin. Drei Wochen lang!
Nach drei Wochen bin ich in die nächste Buchhandlung gegangen und habe mir den Reiseführer zur Via de la Plata gekauft. Schon bevor ich den Pilgerführer gekauft habe, wußte ich, dass ist mein nächster Weg. Warum ausgerechnet die Via de la Plata und nicht den Camino Portugues oder der Camino del Norte, kann ich nicht sagen. Vom Küstenweg habe ich einiges gehört und das Meer ist für mich immer sehr anziehend gewesen, aber die Via Plata hat gerufen. Ich habe mich ausgiebig mit diesem Thema beschäftigt und auseinandergesetzt, mir viele Fragen gestellt und einige Änderungen an meiner Packliste vorgenommen.
Bis zum Start auf die Via de la Plata dauerte es zwei lange Jahre. Gesundheitliche Probleme mußten behoben werden und so konnte ich den bereits gebuchten Flug im Jahr 2009 nach Andalusien nicht antreten.
Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich wußte, dass ich zurück komme - auf den Jakobsweg!




Allen einen herzlichen Gruß von Peregrina Anne

Finisterra + Dia-Show6

29. Mai 2008
Tag 1 nach der Ankunft

Ich habe mich so sehr auf eine ruhige Nacht in meinem Einzelzimmer gefreut und als ob mir die vielen Nebengeräusche fehlen, ich habe längst nicht so gut geschlafen wie in den meisten Nächten im vollen Schlafsaal. Zum Frühstück bin ich mit Annemarie und Josef in der Stadt verabredet uns so treffen wir uns um den Tag gemeinsam zu beginnen. Alleine dadurch unterscheidet dieser Tag 1 nach der Ankunft sich von allen anderen Tagen. Sonst bin ich alleine aufgestanden und wollte den Tag alleine beginnen. Heute stehe ich auf und treffe mich direkt zum Frühstück mit lieben Personen. Wie gewohnt regnet es, und es kümmert uns nicht wirklich. Nach dem üblichen Frühstück mit Caffee con leche und einem Toast, Croissant oder Kuchen machen wir uns auf den Weg zum Busbahnhof. Dort erkundigen wir uns nach einem Bus nach Finisterra. Der Preis schreckt uns im ersten Moment etwas ab. Was sollen wir bei diesem Regen am Ende der Welt? Aber Annemarie hat Recht. Wann haben wir uns in den letzten 4 Wochen vom Regen aufhalten lassen. Und so steigen wir in den Bus um wenigstens am Ende der Welt gewesen zu sein, dort wo der allerletzte Kilometerstein 0Kilometer anzeigt.
Annemaries Bein sieht schlimm aus. Die 50 Kilometer-Etappe ist ihr überhaupt nicht bekommen. Das Bein ist dick und geschwollen und ähnelt einem Ofenrohr. Sie humpelt fürchterlich und hat starke Schmerzen. Da ich meine Notfallapotheke kaum gebraucht habe, oder wenn - dann um andere Pilger glücklich zu machen - versorge ich sie mit Schmerzmedikamenten und meiner letzten stabilen Wickel. Drei von diesen schweren Verbandswickeln habe ich mitgeschleppt, fast 600 Gramm und ich habe keine einzige gebraucht, aber alle gerne verschenkt.
Der Weg nach Finisterra dauert im Bus drei Stunden, dabei sind es doch nur 100 Kilometer. Der Bus schaukelt fürchterlich über die Berge und um die Kurven und ich muß arg mit meinem Magen kämpfen.
In Finisterra nehmen wir ein Taxi zum Ende der Landzunge. Ich wäre gerne gelaufen, aber Annemaries Bein funktioniert überhaupt nicht mehr und so fahren wir. Als wir aus dem Taxi steigen hört der Regen auf und wir haben eine trockene Stunde am Kap. Wir sitzen am Ende der Welt, schauen auf das Meer hinaus und freuen uns, diesen letzten Tripp gemeinsam unternommen zu haben.
Wahrscheinlich werden wir uns nie mehr sehen und es ist schade, aber das ist der Camino. Man trifft Menschen aus allen Ländern und von allen Kontinenten.
Wir machen einige gemeinsame Erinnerungsfotos und mit einsetzen des nächsten Regengusses fahren wir zurück.





Den Rest des Tages verbringen wir in der Altstadt von Santiago. Ein Souvenirladen reiht sich an den nächsten. Kitsch gibt es soviel, wie man sich es nicht vorstellen kann. Aber die Athmosphäre ist gut.
Abends ziehen wir durch die Tapas-Bars von Santiago. Alle, die mir wichtig waren sind da, nur wen ich noch nicht getroffen habe, ist Stephan. Und wie es so will und sein muß, irgendwann geht die Bartür auf und Stephan ist da. Jetzt habe ich alle in Santiago getroffen, die ich treffen wollte. Von einigen werde ich nie wissen, was aus ihnen geworden ist, ob sie ihr Ziel erreicht haben und ob es ihnen gut geht. Aber auch das gehört zum Camino. Ich würde mich freuen und es würde mir gut tun zu wissen wie es ihnen geht, aber ich habe keine vollständigen Namen und keine Adressen und so werden sie in meiner Erinnerung weiter existieren, aber Gewißheit werde ich nicht bekommen.
Noch einmal treffen wir uns am nächsten Morgen in der Stadt zum Frühstück und dann verabschieden wir Josef, der seine Frau gleich am Flughafen empfangen wird um dann mit ihr in Spanien "normalen" Urlaub zu machen. Abends nachdem wir noch durch die Stadt gebummelt sind, verabschiede ich mich von Annemarie. Sie nimmt morgen früh den Bus um in die Schweiz zurück zu fahren und ich muß in der Frühe zum Flughafen um nach Hause zu fliegen.
Es war eine wunderbare Zeit auf dem Camino und ich weiß, dass es nicht meine letzte Pilgerreise war. Ich werde wieder kommen.Wann? Ich weiß es noch nicht, aber es wird sich ergeben und bis dahin werden meine Erinnerungen an diese tolle Zeit mich tragen und begleiten.


Dia-Show 6:
Monte de Gozo - am Ziel - Finisterra
 

Santa Irene - Santiago de Compostela

28. Mai 2008
In gewohnter Manier weckte mich Sandor und 6 Uhr und ein letztes Mal stehe ich als Pilgerin auf und bereite mich wie an allen anderen Tagen zum Aufbruch vor. Nach 28 Tagen denkt man nicht mehr über die Reihenfolge beim Packen nach, alles findet wie gewohnt seinen Platz im Rucksack. Anziehen im Dunkeln, dabei auf der Bettkante des oberen Etagenbettes sitzend, alles funktioniert automatisch und es ist eigenartig sich vorzustellen, dass es morgen keinen Grund gibt so früh aufzustehen. Ich kann liegen bleiben, ausschlafen und aufstehen wann ich möchte. Ich kann dazu sogar das Licht anmachen und muß mir keine Gedanken machen, ob ich irgendwen störe. Eine schöne Vorstellung, aber irgendwie auch schade, dass der Weg vorbei sein soll.
Aber ist der Weg vorbei? Geht er nicht weiter. Das was ich auf dem Weg über mich und über die Welt gelernt habe, bleibt in mir. Die Gedanken, die Gefühle - ich werde diese Reise niemals vergessen.
Aber nun heißt es erst einmal aufbrechen zur letzten Etappe.
Wie so häufig in den letzten Tagen regnet es. Es kann mich nicht mehr erschüttern. Heute steht eine 20 Kilometer-Etappe bevor und diese endet vor der Kathedrale von Santiago de Compostela.
In Santa Irene gibt es keine Frühstücksmöglichkeit, noch einmal, vor allem nicht heute, laufe ich die 2km nicht zurück zur Bar. Es geht vorwärts, Richtung Santiago - es ist nur noch einen Steinwurf entfernt.
Sandor hat noch einige Kekse und wir essen jeder 2 davon und auf geht es. Der Weg führt wieder durch die typischen Euktalyptuswälder. Zeitweise erzählen und lachen wir, aber die meisten Kilometer legen wir schweigend zurück. Nur Sandor´s typischer Satz:" Wait Anne, we must take some Energy!" unterbricht die Stille. Es gibt für jeden ein Stück Schokolade und wir laufen weiter. Komischer Weise gibt es auf den letzten 20 Kilometern keine einzige Bar am Wegesrand, aber heute ist es egal. Dann laufe ich die 20 km nur mit 2 Keksen und einem Stück Schokolade. Jeder von uns hängt seinen eigenen Gedanken nach. In meinem Kopf spielt sich der ganze Weg noch einmal ab. Ich kann mich an so viele Kleinigkeiten erinnern, eigentlich bräuchte ich keine Fotos, der Weg ist tief in mir drinnen.
Es regnet und regnet und ich bin gut gelaunt. Werde ich mir dieses Regen-Lachen daheim bewahren können? Wir kommen am Flughafen von Santiago vorbei. Der Weg führt direkt am Flughafengelände entlang. In drei Tagen werde ich von hier meinen Heimflug antreten. Der Flughafen ist das erste untrügliche Zeichen dass ich bald da bin. Einerseits freue ich mich anzukommen und habe in den letzten Tagen oft genug am Ziel sein wollen, andererseits möchte ich noch gar nicht ankommen. Der Weg mit seiner Athmosphäre und den Menschen auf und am Wegesrand sind so schön, dass es schade ist von hier weg zu gehen. Aber so ist es, jeder Weg geht einmal zu Ende.
Kurz hinter dem Flughafen laufen wir auf den Monte de Gozo zu. Der Freudenberg!
Von hier kann man die Kathedrale erstmals sehen. Das Denkmal auf dem Monte de Gozo finde ich nicht sonderlich schön, aber was ich toll finde ist, dass ich am Denkmal Frank treffe. Ausgrechnet Frank, den ich seit meiner ersten Etappe kenne und schätzen gelernt habe. Auch Frank freut sich. Ich bin überrascht ihn ohne Regenkleidung zu treffen, aber er hat sie gerade eben ausgezogen, weil er ordentlich gekleidet in Santiago ankommen möchte. Mir ist es lieber, trocken anzukommen, denn es regnet nicht zu knapp. Es ist ein wunderbarer Anfang vom Ende uns hier wieder zu sehen. Die Kathedrale ist vom Monte de Gozo nicht zu sehen, alles ist nebelverhangen, aber ich weiß, dass sie bei besserem Wetter zu sehen wäre.









Zu dritt setzten wir unseren Weg fort. Es ist kaum zu glauben, ich bin knapp über 700km zu Fuß gegangen. Nicht eine einzige Blase habe ich gehabt. Leztendlich hat es nur mal etwas gezwickt und gezwackt in den Gelenken, aber das darf sein und gehört dazu.
Am Stadtrand von Santiago besteht die Möglichkeit in eine Bar einzukehren. Es ist fast 11 Uhr und nach 20 Kilometern bin ich immer noch nüchtern (abgsehen von 2 Keksen und 1nem Stück Schokolade), aber jetzt möchte ich in keine Bar mehr, ich möchte ankommen.
Als ich in der Altstadt das erste Mal die Türme der Kathedrale sehe ist es um mich geschehen. Alle lachen und freuen sich und mir laufen die Tränen aus den Augen. Aber auch ich freue mich. Der Weg führt von hinten an die Kathedrale heran. Nur noch wenige 100 Meter und ich bin da. Einige Stufen liegen noch vor mir und so kurz vor dem großen Ziel falle ich die Treppe runter. Das darf wohl nicht wahr sein, fast vor der Kathedrale und ich fliege hin. Glücklicher Weise ist nichts passiert und ich stehe lachend wieder auf. Am Ende der Treppen links und wir stehen auf der Plaza de Obradoiro, dem Kathedralenvorplatz. Da ist sie, ich stehe direkt vor der Kathedrale. Das war es, ich bin da. Es plästert, nur wenige Menschen sind bei dem Regenwetter unterwegs. Lange halten wir nicht inne. Wir freuen uns und wollen nur so schnell wie möglich aus dem Regen raus.



Sandor möchte zu erst die Compostela holen, ich möchte erst in die Kathedrale. Es ist 11.15 Uhr und um 12 Uhr beginnt die Pilgermesse. Ich gehe in die Kathedrale, und wem laufe ich direkt in die Arme? Annemarie und Josef. Ich wußte es, ich habe es gewußt, dass ich sie noch einmal treffen werde. Die Begrüßung ist herzlich, wir freuen uns es geschafft zu haben. Annemarie war sich sicher, dass ich heute ankomme, Josef hat eher zu Donnerstag tendiert. Da es im Regen vor der Kathedrale kein Ankunftsfoto von mir gibt, holt Josef das nach und macht das Ankunftsfoto in der Kirche.


Derweil ich in die Pilgermesse gehe, besorgen Josef und Annemarie mir ein Zimmer in einer Privatpension.
Die Messe ist wunderschön. Leider wird heute kein Botafumeiro geschwungen. Erstmals eine Messe, mit Orgel und allem drum und dran. Ein schönes Orgelspiel habe ich in den ganzen Messen meiner Pilgerzeit nicht zu hören bekommen. Und heute ist es genau nach meinem Geschmack. Zu Beginn und zum Ende ein schönes Bach-Präludium. Während der Messe laufen mir immer mal wieder die Tränen runter, aber ich bin nicht die Einzige der es so geht. Ich habe es geschafft, ich bin am Ziel!
Aber ist der Weg hier zu Ende? Ich glaube es nicht. Santiago ist eine wunderschöne Stadt am Camino. Aber kein Weg hört einfach auf. Irgendwo und irgendwie geht jeder Weg weiter. Vielleicht ist Santiago auch der Anfang eines neuen Weges.
Ein Pilger sagte einmal während eines Gespräches: "Wenn sich unser Blickwinkel durch den Camino auch nur ein ganz klein wenig ändert, ist das schon viel. Vielleicht bemerken wir es nicht direkt, aber wenn wir in einigen Jahren zurückschauen, wird es viel bewirkt haben. Es ist wie mit einem kleinen Winkel. Auch zwei Geraden mit einem kleinen Winkel entfernen sich auf die Dauer weit von einander - und so ist es auch mit unserem Blickwinkel."
Ich hoffe es ist so. Ich habe auf dem Weg so viel gelernt und erlebt, dass er einfach nicht zu Ende sein kann. Auf der Wegstrecke ist Santiago das Ende vom Weg, aber der Weg geht weiter - ich weiß das.


Hallelujah, es ist vollbracht!

Melide - Santa Irene + Dia-Show 5

27. Mai 2008
Bis 4 Uhr am morgens habe ich bestens  geschlafen, dann war meine Nacht vorbei. Nur bis 4 Uhr, aber das sind immerhin 7 Stunden, da ich schon um 21 Uhr in´s Bett gegangen bin.
Sandor steht um 6 Uhr pünktlich vor meinem Bett und wir brechen im Regen zu unserer vorletzten Etappe auf. Einen Joghurt vom Vortag habe ich noch und esse ihn im Treppenhaus sitzend auf und los geht es.
So schwer wie mir das Laufen gestern gefallen ist, so leicht und locker geht es heute. Woher die gestrigen Achillessehnen-Beschwerden gekommen sind, weiß ich nicht - aber heute spüre ich davon nicht mehr das Geringste. Erzählend und lachend laufen wir Richtung Santiago. Wir freuen uns bald da zu sein, 50 Kilometer sind es nur noch.
Am Wegesrand sehe ich wieder das parkende Auto mit dem wartenden Ehemann. Auch ihn begrüßen wir überschwenglich und können berichten, dass seine Frau bald erscheint, sie ist nicht weit hinter uns.
Der Weg führt durch Euktalyptuswälder und zum dritten und letzten Mal passiert es. Wir verlaufen uns mal wieder. Dieses Mal hängt es damit zusammen, dass wir vor lauter Quatschen nicht richtig aufgepasst haben und dem Hauptverlauf des Weges gefolgt sind. Aber nicht immer ist der Hauptverlauf der richtige Weg, ein kleiner unscheinbarer Weg nach rechts hätte es sein müssen. Sehr weit laufen wir nicht in die falsche Richtung. Mir fällt wieder ein kleiner kläffender Hund auf - dieses Mal hinter einem Gartenzaun. Die bellenden Hunde sind immer ein Zeichen. Bellen die Hunde, sind sie keine Rucksackpilger gewöhnt. Die Hunde die den Anblick von rucksacktragenden Menschen kennen, nehmen ihn gelassen hin. Die Besitzerin des Hundes kommt aus dem Haus und erklärt uns freundlich, dass wir vor einigen hundert Metern hätten in den Seitenweg abbiegen müssen. Wir danken und drehen um und finden problemlos den gemeinten Weg. Auch die uns folgenden Pilger weisen wir auf unseren Irrtum hin, und so gehen wir alle wieder zurück.


In einer kleinen Bar trinke ich einen Kaffee und bekomme ein Muffin dazu. Sandor frühstückt nicht, er läuft die 30 Kilometer mehr oder weniger nüchtern. Vor dem Aufbruch hat er ein Glas Milch getrunken und das reicht ihm.
Langsam hört es auf zu regnen und Santa Irene erreichen wir im Trockenen.
Immer wieder fallen mir seit Sarria Pilger auf, denen man es ansieht,  dass sie gerade erst gestartet sind. Die 100km-Pilger unterscheiden sich oftmals äußerlich von den Langstreckenpilgern. Vor mir schlendert eine ältere, europäisch aussehende Pilgerin mit einem riesigen japanischen Strohhut auf dem Kopf.
Auch lustig sind zwei etwas korpultentere Peregrinas, die morgens immer noch ausschlafen, derweil wir aufbrechen. Sie stehen gemütlich auf, frühstücken in der ortsansässigen Bar, und wenn ich die nächste Herberge erreiche, liegen sie schon Siesta-haltend auf dem Bett, haben schon zu Mittag gegessen und erzählen von den spannenden Erlebnissen des Tages. Haben die ein Flugzeug in ihrem winzigen Rucksack? Oder wie kommt es, dass sie vor mir in der Herberge sind, sie uns aber auf dem Weg nie überholt haben? Es ist schon lustig, was man für Pilger trifft.
Santa Irene besteht nur aus einigen wenigen Häusern an einer Straße. Die private Herberge ist schon belegt. Leider! Viele haben dort ein Bett vorbestellt und können so in aller Ruhe die Tagesetappe absolvieren. Sandor und ich bekommen ein Bett in der städtischen Herberge. Die Herberge ist wieder alt und verwohnt und bietet keinerlei Komfort. Die Herbergen auf den letzten 100km des Weges sind schlechter als alle anderen. Das Wasser in der Dusche spritzt irgendwo aus der Wand und kalt ist es auch noch. Hier gibt es kein warmes Wasser. Also dusche ich nicht, es ist draußen kalt genug, da muß ich nicht noch zusätzlich kalt duschen und auskühlen. Am Waschbecken wasche ich mich notdürftig, die Haare müssen so bleiben wie sie sind.
Eigentlich wollte ich sauber und ordentlich, oder mindestens mit gewaschenen Haaren in Santiago ankommen, aber dann halt nicht. Der liebe Gott wird es mir unter diesen Umständen schon verzeihen.
Um etwas zu essen zu bekommen muß ich die Straße ca. 2 Kilometer zurücklaufen. Zurücklaufen! Das habe ich in den letzten 27 Tagen kein einziges Mal gemacht, immer ging es vorwärts. Aber so gehe ich heute, ein einziges Mal als Peregrina auf dem Weg zurück, um mit anderen Pilgern in der Bar zu essen. Morgen mittag bin ich keine Pilgerin mehr, dann bin ich Touristin.
Ich habe mich schon dazu entschlossen, mir in Santiago ein Zimmer zu nehmen. Wenn ich in Santiago bin, die Messe besucht habe und meine Compostela habe bin ich Touristin und so möchte ich wie alle Touristen in einer Pension oder einem eigenen Zimmer schlafen. So schön die Gemeinschaft in den Schlafsäälen war, so sehr möchte ich einmal wieder eine ganze Nacht ungestört schlafen.


Dia-Show 5:
Ponferrada - Monte de Gozo


Gonzar - Melide

26. Mai 2008
Auch heute morgen schüttet es wieder aus Kübeln. Ich bin den Regen satt und möchte nur noch ankommen. Es sind nur noch drei Etappen nach Santiago und dass ist auch gut so. Im Moment ist die Luft bei mir raus.
Warum muß es dauernd regnen? Ich bin in Spanien, ich dachte da würde die Sonne stärker und häufiger scheinen.
Die Nacht war wieder bescheiden und ich habe schlecht geschlafen. Den Grund für das schlechte Schlafen weiß ich nicht. Ein mir unbekannter Pilger im Nachbarbett hat fürchterlich nach Schweiß gestunken. Riechen konnte man das schon nicht mehr nennen, aber ob es daran lag???
Pünktlich um 6 Uhr weckt Sandor mich und um 6.30 Uhr starten wir unsere drittletzte Etappe. Es regnet ohne Unterlass. Meine Regenkleidung ziehe ich direkt an und auch erst wieder nach der Ankunft in Melide aus.
Eigentlich ist der Weg ganz schön, aber wir stapfen nur durch Schlamm und Dreck. Bei Regen ist eine betonierte Straße angenehmer zu laufen.
Mir fällt immer wieder eine ältere, kleine Pilgerin auf, die nur einen winzigen Tagesrucksack dabei hat. Irgendwann sehe ich sie im geöffneten Kofferraum eines Autos bei einer Mahlzeit sitzen. Sie läuft den Weg und überall dort, wo der Weg eine Autostraße kreuzt wartet ihr Mann auf sie. Es ist ein lustiger Anblick und mir fällt auf, dass ich das parkende Auto schon häufiger gesehen habe.
Plötzlich am Kilometerstein 68 bekomme ich fürchterliche Achillessehnenschmerzen. Das Laufen tut richtig weh. Warum bekomme ich nach ca. 650 Kiolometern kurz vor dem Ziel noch solche Probleme? Da Sandor Sportlehrer und erfahrener Marathonläufer ist, massiert er mir mein Bein. Von nun an läuft er wirklich langsam vor mir her. Er gibt das Tempo an und wir laufen langsam, damit ich meine Achillessehen nicht überanstrenge und Santiago erreichen kann. Ich verstehe es nicht, aber vielleicht hängt es damit zusammen, dass bei mir etwas die Luft raus ist. Zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht mehr mit Beschwerden gerechnet.
Aufgrund des Dauerregens entstehen heute keine Fotos.
Irgendwann erreichen wir Melide. Ich freue mich auf die Herberge. Raus aus den verschwitzten Klamotten, endlich wieder warm werden. Vor der Herberge steht eine lange Schlange und es dauert relativ lange bis wir eingelassen werden. Auf das Regenwetter nimmt niemand Rücksicht, man hat bis zur Öffnungszeit draußen zu warten. Die Herberge in Melide ist nicht wirklich schön. Sie ist sehr alt und verwohnt und bietet überhaupt keinen Komfort. Aber ich habe ein Dach über dem Kopf und ein Bett, das reicht.

Sarria - Gonzar

25. Mai 2008
Heute nacht hatte ich die Gelegenheit in einem richtigen Bett mit Bettwäsche in einem kleinen Vierbettzimmer zu schlafen und die Nacht war eine der lautesten Nächte bisher. Nicht, dass ich mit einem Schnarcher in einem Zimmer geschlafen habe, nein - von der Straße kam ein Lärm sondergleichen. Keine Ahnung, was die Jugend die ganze Nacht dort getrieben hat, aber es war einfach laut und ich konnte bei dem Krach nicht schlafen.
Als ich die Herberge verlasse kann ich schon sehen, was hier draußen geschehen ist. Heute ist Fronleichnam und die Straßen wurden für die Prozession wunderschön mit Blumenbelag geschmückt. Es sieht wunderschön aus und die unruhige Nacht ist direkt verziehen.











Der Himmel ist sehr klar und ich kann sehen, dass es wieder einen schönen Tag geben wird. Ich laufe durch Hochnebelfelder und der Anblick durch den Nebel auf die aufgehende Sonne ist wunderschön. Ich erfreue mich daran. Ich habe das Gefühl, dass der Weg sich heute wieder von selbst läuft. Gestern empfand ich das Laufen als sehr anstrengend, heute kommt mir Santiago mit jedem Schritt näher.



Der Weg ist durch den Regen der vergangenen Tage sehr nass und schlammig. Wie oft habe ich mich auf dem Weg schon über meine Entscheidung Goretexschuhe zu kaufen gefreut. Hätte ich wie geplant Vollleder-Schuhe gekauft, hätte ich ständig nasse Füße gehabt und das Blasenrisiko wäre erheblich gestiegen. Zwischenzeitlich kann ich nicht unterscheiden ob der Weg durch einen Bach läuft, oder ob der Weg durch den Regen zum Bach geworden ist. In der Mitte des Weges liegen große, lange Steine die fast aus dem Wasser heraus schauen, aber auch nicht komplett. Ohne die Steine würde mir das Wasser von oben in die Schuhe laufen.


Trotz der steigenden Sonne bleibt es kühl. Ich kann es immer wieder wiederholen. Es ist bezaubernd durch diese Landschaft zu gehen. Die Wege werden durch Steinmauern eingezäunt, Schäfer mit Schafherden kommen mir entgegen. Der Hochnebel hat sich etwas gelichtet, aber die Wiesen und Bäume sind von einem Nebelschleier umgeben. Sehr weit kann ich teilweise nicht schauen, weil der Nebel den Blick versperrt. Durch den Nebel kommen wieder die Spinnenweben hervor. Es ist wunderschön, wie sich die Luftfeuchtigkeit an den zarten Netzen absetzt.





Seit etlichen Kilometern halte ich schon Ausschau nach einer Bar, aber weit und breit ist heute keine Bar am Weg zu erkennen, dabei wäre mir so nach einem Frühstück. Irgendwann muß ich mal wieder etwas essen. Ich laufe schon seit etlichen Kilometern mit leerem Magen umher.
Irgendwann glaube ich eine Bar abseits des Weges im Nebel zu erkennen und biege dorthin ab. Tatsächlich eine Bar, aber ich bin ganz alleine dort. Es kann doch nicht sein, dass ich in einer Bar alleine bin, nicht einmal Einheimische sind hier. Das habe ich auf all den Kilometern noch nicht erlebt. Da es weder Toast noch Bocadillos gibt, bekomme ich ein Stück Marmorkuchen zum Frühstück.
Ich bin so froh, immer noch unterwegs zu sein. Wer von meiner Familie oder Freunden hätte gedacht, dass ich so weit komme. Ich habe innerlich immer gewußt, ich schaffe es - aber woher meine Sicherheit kam, weiß ich nicht.
Bis nach Portomarin ist es nicht mehr weit. Der Stausee ist schon in der Talsenke zu sehen. Seit ich in Galicien bin, sehe ich regelmäßig die kleinen schönen Kornspeicher am Wegesrand stehen. Es ist sehr ländlich. Kornspeicher, Kühe, Schafe und Hähne am Wegesrand. Die Menschen hier in Spanien wirken optisch viel älter als gleichaltrige Menschen daheim. Von der harten körperlichen Arbeit sehen die meisten viel älter aus, als sie sind. Wo sieht man in Deutschland Schäfer ihr Schafe über die Wege treiben?
Der Weg nach Portomarin führt über den Stausee. Portomarin wurde vor vielen Jahren Stein für Stein abgetragen und auf dem gegenüberliegenden Berg wieder aufgebaut. Das ursprüngliche Portomarin ging in den Wassermassen des Stausees unter. Portomarin kommt mir sehr voll vor. In einer Bar mache ich eine Pause und entscheide meinen Weg fortzusetzen. Es ist noch relativ früh am Tag und ich habe noch Zeit und Lust zur nächsten Herberge zu laufen.





Gestern habe ich mir noch gesagt, dass es egal ist, ob ich in 4 (Mittwoch) oder 5 Tagen (Donnerstag) in Santiago de Compostela ankomme. Heute sehe ich das Ganze schon wieder anders. Ich möchte am Mittwoch in Santiago ankommen. Wenn ich Mittwochmittag in Santiago bin, kann ich Donnerstag in die Pilgermesse gehen und Freitag an den Atlantik fahren, denn den möchte ich unbedingt gesehen haben.
Diese Entscheidung spornt mich an und gibt mir die Energie die nächsten Kilometer bis Gonzar zu laufen. Über eine weitere Brücke geht es wieder an das andere Ufer des Stausees zurück und der Weg führt durch einen Wald leicht hinauf. Seit Sarria wird die Entfernung nach Santiago auf Kilometersteinen angezeigt. Die Zahlen darauf sind schon deutlich zweistellig. Den 100km-Stein habe ich verpasst oder er ist mir nicht aufgefallen. Offiziel zählt Sarria als Startpunkt für die letzten 100km, tatsächlich sind es aber von dort noch 110 Kilometer. Aufgrund veränderter Wegführung hat sich der Weg mit der Zeit verlängert.
Kurz vor Gonzar führt der Weg zurück an die Bundesstraße. An der vielbefahrenen Straße werden die Autofahrer vor kreuzenden Pilgern gewarnt. Ich habe schon öfter über die spanischen Straßenschilder gelacht, und über dieses Schild muß ich wieder richtig lachen. Als ob von  uns Pilgern eine Gefahr ausgehen würde.



Vor der Herberge in Gonzar sitzt Sandor. Ihn habe ich schon seit vielen Kilometern nicht mehr gesehen. Ich freue mich endlich wieder ein bekanntes Gesicht zu treffen. In Sarria gestern kannte ich niemanden - wo auch immer meine lieben Mitpilger alle geblieben sind.
Sandor freut sich sehr mich zu sehen. Er umarmt mich und führt ein Freudentänzchen auf. Wir beschliessen die letzten drei Etappen gemeinsam zu gehen. Ich freue mich, gemeinsam mit Sandor die letzten drei Etappen zu laufen. Ich wollte den Weg immer alleine gehen, aber es war immer mein Wunsch nicht alleine in Santiago anzukommen.
Morgen und übermorgen gibt es noch zwei dreißig Kilometer-Etappen, und die letzte Etappe nach Santiago hinein wird noch 20 Kilometer betragen. In Monte de Gozo, 5 Kilometer vor der Stadt möchte ich nicht übernachten.

Triacastella - Sarria

24. Mai
Heute morgen habe ich mich von Annemarie und Josef verabschiedet. Die Beiden möchten heute eine Doppeletappe laufen. Sie möchten austesten, wie weit sie gehen können. Nach solchen Experimenten ist mir zur Zeit nicht. Ich spüre meine Knochen deutlich und ich habe Schmerzen beim Laufen. Nicht, dass die Füße Probleme machen - sie sind blasenfrei seit 600 Kilometern - aber ich habe Schmerzen im ISG. Meine bekannte Problemstelle macht das Laufen etwas schmerzhaft, das linke Bein klemmt in der Vorwärtsbewegung. Aber ich möchte nicht jammern und laufe weiter. So lange es so bleibt wie es ist, ist es in Ordnung.
Ich bin mir zu 100% sicher, dass ich Annemarie und Josef spätestens in Santiago wieder sehe. Ich weiß es einfach und es ist okay wie es ist.
Ich entscheide mich für den direkten Weg nach Sarria und lasse den Gedanken an das Kloster Samos fallen. Eigentlich schade, weil ich es immer anschauen wollte, aber ich habe keine Lust auf den Straßenweg.
So laufe ich bergauf und bergab durch ein Wäldchen und erfreue mich mal wieder an einem Sonnenaufgang. Die Luft ist feucht, der Weg ist schlammig, aber es regnet nicht mehr und die Wolkendecke lichtet sich. Die Bäume glühen im Licht der aufgehenden Sonne.







Irgendwann schaffe ich es mal wieder mich zu verlaufen. Nachdem der Matschweg ein kleine Straße kreuzt, zeigt ein gelber Pfeil nach links und ich laufe in die Richtung. Ich wunder mich etwas, da ich aus dieser Richtung gekommen bin, laufe aber brav weiter. Es sollte mich eigentlich stutzig machen, wenn ich nur noch wenige Pilger sehe, aber scheinbar habe ich es immer noch nicht begriffen. Vor mir laufen mehrere Koreaner und so denke ich nicht nach, obwohl vorher viel mehr Pilger zu sehen waren. Spätestens bei den knurrenden Hunden am Straßenrand hätte ich es eigentlich kapieren müssen. Da stehen zwei mehr als hüfthohe knurrende Hunde am Straßenrand und versperren den Weg und ich will immer noch in die falsche Richtung laufen. Die Koreaner lenken den Hund mit Stockklappern ab und ich passiere die Stelle. Irgendwann werde ich stutzig und mache mich bemerkbar, dass wir falsch sind. Freundlich verneinen die Koreaner und laufen weiter. Ich beschließe zurück zu gehen, es kann nicht richtig sein und der letzte Wegweiser ist auch schon ewig her. Der Rückweg wird wieder von den mir schon bekannten knurrenden Hunden versperrt. Ich habe eine elendige Angt und nichts, womit ich mich im Falle eines Angriffes wehren könnte. Ich überwinde meine Angst und gehe vorbei. Ich sehe im Augenwinkel Menschen hinter der Hofeinfahrt des Hundes und denke, dass ich im Notfall nicht allein sein werde. Nach ca. 5 Kilometern bin ich wieder da, wo ich die falsche Richtung eingeschlagen habe. Ich schaue mir den Wegweiser genau an und sehe, dass er irgendetwas Privates ausschildert, aber nicht den Camino. Ich setze meinen Weg in die richtige Richtung fort und direkt laufe ich wieder im Pilgerpulk. Das war nun das Verlaufen Nr. 2, nur habe ich es dieses mal noch später gemerkt und akzeptiert als beim ersten Mal.
Ich habe das Gefühl, dass der Weg für mich innerlich schon zu Ende ist. Ich habe alles erreicht was ich erreichen wollte. Ich bin eine sehr weite Strecke gelaufen, habe die Berge überquert und mir gezeigt was ich zu leisten im Stande bin.
Natürlich laufe ich weiter, schließlich ist Santiago mein Ziel und nicht Sarria, aber von der inneren Einstellung wäre es für mich nicht unbedingt nötig. Wie sieht dass denn aus, wenn ich nach 600 Kilometern den Camino abbreche, ohne körperliche Beschwerden zu haben (abgesehen von meinen kleinen Zipperleins). Gerade die letzten 100 Kilometer sind die Kilometer die jeder laufen möchte und mich reizen sie plötzlich nicht mehr.
Für heute reicht es. In Sarria entscheide ich für heute genug gelaufen zu sein. Ich liege absolut in meinem Zeitplan und es ist egal ob ich in vier oder fünf Tagen ankomme.
In Sarria nehme ich ein Zimmer in einer privaten Herberge. Nach über drei Wochen schlafe ich erstmals wieder in Bettwäsche und ohne Schlafsack. Die Herberge ist die teuerste auf dem Weg bisher.
Sarria ist die typische Anfangsstadt für die Kurzstrecken-Pilger und die Herbergen lassen sich den Touristenrummel etwas kosten.

O Cebreiro - Triacastella

23. Mai 2008
Trotz des großen Schlafsaales habe ich gut geschlafen. Zwischendurch wurde ich vom Unwetter draußen wach. Es regnete und stürmte fast die gesamte Nacht. Der Wind heulte um die Ecken und ich freute mich im warmen Bett zu liegen.
Was habe ich doch für ein Glück mit dem gestrigen Tag gehabt! Ich bin auf dem Weg schon oft in Regengüsse gekommen, aber ich bin immer nur auf problemlosen Wegabschnitten in heftige Unwetter geraten. Auf allen anspruchsvolleren Wegstrecken bin ich vom Regen verschont geblieben, oder der Regen hat nach meiner Ankunft eingesetzt.
Als wir die Herberge verlassen ist nicht viel von der schönen Umgebung zu sehen. Alles ist wolkenverhangen und nebelig. Sehr weit kann man nicht voraus sehen.


Es wird davon abgeraten, bei schlechtem Wetter den Weg über den Pass zu nehmen. Es geht noch etwas aufwärts, O Cebreiro liegt nicht komplett auf der Spitze des Berges. So nehmen wir die einsame Landstraße und setzen unseren Weg auf ihr fort. Natürlich ist es schöner über Landwege zu gehen, aber wir wollen gesund und heile in Santiaog ankommen, zumal das Ziel zum Greifen nahe scheint - dabei sind es immer noch 150 Kilometer. Am Alto del Poyo frühstücke ich in einer Bar. Anschließend entscheide ich mich dazu, meinen Regenponcho anzuziehen. Es scheint nicht mehr lange trocken zu bleiben. Immer wieder reißt für einen kurzen Moment die Wolkendecke auf und ich kann hinab in´s Tal sehen.


Heute habe ich das erste Mal auf dieser Reise richtig starke Kopfschmerzen. Meine Migräne läßt grüßen...
Auch die Aspirin hilft nicht wirklich gut und so lasse ich Annemarie und Josef schon einmal voraus ziehen. Ich kann heute nicht so schnell und laufe im gemütlichen Tempo die Berge runter, die ich gestern mühsam hochgekraxelt bin.
Ein Pilgerdenkmal steht nebelverhangen am Wegesrand. Ich "kenne" es vom Cover meines Reiseführers. Schon öfter habe ich mich gefragt wo es wohl steht und plötzlich liegt es vor mir. 


Mein Weg führt mich immer weiter hinunter. Immer wieder gerate ich in Regengüsse. Mitten in der Einsamkeit steht wieder ein kleines Kirchlein, sonst nichts. Zwischen den Wolken kommt kurzfirstig die Sonne hervor. Zusammen mit dem Regen gibt es einen schönen Regenbogen.




Zum Schluss, kurz vor Triacastella führt der Weg durch einen Wald und dann kann ich mein nächstes Etappenstädtchen sehen. Da ich weiß, in welche Herberge Annemarie und Josef wollten, laufe ich zu dieser Herberge. Die Herberge ist mal wieder sehr nett. Da mein Kopf einfach nur noch dröhnt, lege ich mich in´s Bett obwohl die Siestazeit noch nicht einmal begonnen hat. Nach einem dreistündigen Schlaf geht es mir wesentlich besser und ich mache einen Rundgang durch das Städtchen. In einer Bar esse ich erstmals eine Tarte de Santiago, einen Mandelkuchen, und treffe dabei Frank wieder. Frank und ich begegnen uns seit meinem ersten Wandertag regelmäßig. Wir können toll miteinander reden, und dennoch laufen wir nie zusammen, freuen uns aber immer sehr uns zu treffen. Nach Kaffee und Kuchen trennen wir uns wieder. Eigenartiger Weise kennt Frank Annemarie und Josef nicht - dabei müßten sie sich doch genauso häufig treffen wie wir, aber Frank wohnt wieder in einer anderen Herberge. Zum Abendessen koche ich mit Annemarie und Josef in der Herberge. Es gibt Nudeln, mit Thunfisch und Tomatensauce. Nach der Abendmahlzeit renne ich durch den Regen zur Pilgermesse. Wieder schüttet es richtig.


In der Kirchentür steht ein Mann in Jogginganzug und Turnschuhen. Mit einem letzten Sprint renne ich in die Kirche hinein und springe dabei noch kurz in eine Riesenpfütze. Der Herr im Kirchenportal nimmt mir lachend den Regenponcho ab und hängt ihn über den Beichtstuhl. Auch die Marienstatue und alle anderen Statuen, Stühle und Bänke wurden schon zweckentfremdet um die Kleidungsstücke zu trocknen. Alleine wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, meinen Poncho über die Maria zu hängen, aber wenn der Pastor das macht, dann soll das wohl okay sein. Kurze Zeit später wirft sich der kleine Mann im Jogginganzug sein Priestergewand über und die Messe startet. Erstmals ist es einen Messe der ich folgen kann. Anfangs fragt der Priester nach den Nationalitäten der Messbesucher. Aus jeder Nation sucht er einen Pilger heraus. Mich nimmt er für die deutschsprachigen Pilger und ich muß mich nach vorne zu ihm setzten. Die Messe wird international gestaltet. Es werden viele Taizee-Lieder angestimmt, so dass alle mitsingen können. Die Gebete und Psalmen werden in jeder Sprache vorgelesen, ich lese die deutschen Texte. Es ist eine schöne Messe und ich bin froh noch einmal in den Regen hinausgegegangen zu sein.
Morgen gibt es wieder zwei Wegvarianten. Ursprünglich habe ich mir die längere Wegvariante über das Kloster Samos vorgenommen, aber zur Zeit tendiere ich für die kürzere, aber landschaftlich schönere Variante nach Sarria. Samos hatte ich schon vor Beginn meiner Reise auf meinem Wunschzettel und plötzlich streiche ich den Gedanken, weil der Weg nach Samos über die Straßen führt. Die 3 Kilometer Umweg stören mich im Prinzip nicht, wohl aber die Straße. Mal schauen, wo nach mir morgen der Sinn steht.














Villafranca del Bierzo - O Cebreiro

22. Mai 2008
Mit Einbruch der Dämmerung bin ich zur langen, anstrengenden Etappe aufgebrochen. Heute stehen mir ca. 30km durch die Berge bevor.
Das Wetter ist so wie ich es mir gewünscht habe. Klar, trocken und kühl. Den Weg bis zum Abzweig auf den Camino duro habe ich schon gestern ausgekundschaftet und so ist es kein Problem aus der Stadt hinauszulaufen. Ich gehe nicht komplett den ausgewiesenen Weg, sondern nehme eine Abkürzung durch die Stadt. Der Weg heute wird weit und anstrengend, da kann ich die paar Meter in der Stadt abkürzen, zumal ich weiß wo ich hin muß.
Außer von Annemarie und Josef, weiß ich niemanden der den Duro ebenfalls gehen möchte. Kurz vor dem Abzweig in die Berge hinauf stehen plötzlich meine beiden Pilgerfreunde auf dem Weg. Auch wenn sie mich noch nicht gesehen haben, haben sie mich schon hinter der Straßenecke husten gehört. Seit Teradillos bin ich immer noch etwas erkältet - und wo sie mich schon gehört haben, warten sie auf mich. Gemeinsam machen wir uns an den Anstieg. Es geht steil bergauf, aber nach einer halben Stunde sind wir auf der Höhe angekommen.
Ich bin immer wieder verwundert, wie leicht mir die Aufstiege fallen. Vor den Aufstiegen habe ich mir im Vorfeld die meisten Sorgen gemacht, und es ist - wie alle anderen Sorgen im Vorfeld - völlig unbegründet. Bei bisher allen Aufstiegen bin ich schneller oben als meine Mitpilger. Hingegen bin ich in der Ebene manchmal etwas langsamer als andere Pilger, aber scheinbar immer noch recht flott.





Von dem Höhenweg können wir hinunter in´s Tal blicken. Die Bundesstraße und die Autobahn schlängeln sich durch das Tal. Die Pilger entlang der Bundesstraße wirken klein wie Ameisen aus unserer Perspektive. Ich bin sehr froh mich für den Camino duro entschieden zu haben, die Landschaft ist wunderschön und von hier oben sieht unser Weg viel attraktiver aus, als der Straßenweg. Der Weg führt uns durch Kastanienwälder und durch eine schöne und einsame Vegetation. Weit und breit ist niemand zu sehen und so genießen wir zu dritt die Einsamkeit. Gefährlich ist es nicht, zumindest nicht bei dieser klaren Wetterlage.







Nach ca. 9-10 Kilometern geht es an einen steilen, steinigen Abstieg, der gut zu bewältigen ist. Am hinteren Stadtrand von Trabadellos stoßen wir wieder auf den "normalen" Camino. Ich bereue nicht, die extra Höhenmeter gegangen zu sein - es war wunderschön. Zurück im Tal ziehen Annemarie und Josef mit dem Tempo an. Mir ist es gerade für den Moment zu schnell und ich lasse sie ziehen. Wir haben uns nicht verabredet, aber ich bin mir sicher sie in O Cebreiro wieder zu treffen. Die beiden hätten auch auf mich gewartet und für mich ihr Tempo reduziert, aber jeder soll sein eigenes Tempo gehen.
Da der Camino duro erst am Ende von Trabadellos wieder auf den Camino stößt, gibt es keine Bar mehr in diesem Ort, es sei denn ich ginge zurück in das Dorf hinein. Aber rückwärts gehe ich auf diesem Weg nicht.
So verspeise ich als Frühmalhlzeit meine beiden Bananen und das muß reichen.
Irgendwann komme ich an einer Tankstelle vorbei. Dort gibt es eine Bar und ich frühstücke endlich. Meine Wasserreserven muß ich auch auffüllen. Seit der Magen-Darm-Grippe trinke ich kein Brunnen- oder Kranwasser mehr. Ich kaufe das Wasser nur noch. Der eine Euro für das Wasser ist auch noch mit drin und so kann ich zumindest das Wasser als Infektionsquelle ausschließen.
Obwohl der Weg an der sehr ruhigen Straße entlang führt, ist er wunderschön. Die Umgebung ist bezaubernd, saftig und grün. Alles blüht und leuchtet mal wieder.









Immer wieder schaue ich in die Höhe der mich umgebenden Berge und überlege, ob mein Weg schon zu sehen ist. Wo führt mich der Weg hinauf in die Berge?
Langsam und stetig führt mich der Weg hinauf, er führt weg von der Straße. An einem kleinen Hof sehe ich einige Jungkatzen und erfreue mich an ihnen. Ich schaue ihnen eine Weile zu und tanke dabei Energie für den vor mir liegenden Aufstieg. Zu gerne würde ich die kleinen Katzen knuddeln, aber ich lasse sie in Ruhe mit ihrer Mutter spielen. Sie sind so süß, am liebsten würde ich sie mitnehmen.



Der Aufstieg nach La Faba geht über einen steinigen Weg. Es geht merklich bergauf und schon nach kurzer Zeit spüre ich meinen eigenen Puls im ganzen Körper. Es ist anstrengend und immer wieder bleibe ich eine kurze Weile auf dem Weg stehen. Etliche Pilger ohne Rucksack sehe ich. Viele Pilger lassen ihr Gepäck mit dem Gepäcktransport nach O Cebreiro transportieren. Und obwohl ich meinen Rucksack dabei habe, komme ich gut vorwärts. Der Blick in´s Tal und auf die umliegenden Berge ist wunderschön. Die Sonne scheint, alles strahlt und macht gute Laune.







Beim Aufstieg bemerke ich, dass wieder Wolken aufziehen. Je höher ich komme, desto mehr Wolken erscheinen am Himmel, aber die Temperaturen sind warm. Bei dem anstrengenden Aufstieg könnte es auch etwas kühler sein. Aber nein - ich freue mich über das gute Wetter.
 In La Faba überlege ich einen Moment, ob ich bleiben soll - entscheide mich aber für das Weiterlaufen. Nach fünf Minuten denke ich, ach geh doch nach La Faba zurück. Als ich wieder in La Faba bin sage ich mir: So ein Quatsch, du wolltest heute nach O Cebreiro! Und so drehe ich La Faba entgültig den Rücken zu und nehme die letzten 5 Kilometer nach O Cebreiro in Angriff.
Ich genieße den Aufstieg, egal wie anstrengend er ist und freue mich auf das heutige Ankommen.
Plötzlich sehe ich den Grenzstein zu Galizien. Nun bin ich in der letzten Provinz meiner Reise. Santiago de Compostela liegt in Galizien. Immer wieder erinnern mich kleine Dinge daran, dass es nicht mehr sehr weit bis Santiago ist. Noch will ich nicht ankommen, möchte weiter laufen.






Mit jeder Minute ziehen nun zunehmend mehr und mehr Wolken auf, aber egal ich bin kurz vor Cebreiro.
Nach einigen Kurven stehe ich plötzlich am Dorfrand. Gleich fallen mir die Touristenmengen auf, die dieses Dorf besuchen. Zu Scharen fahren sie hinauf auf den Berg um sich dieses historische Dorf mit seinen reedgedeckten Rundbauten anzuschauen. Das Dorf erinnert mich an die Comics von Asterix und Obelix, dabei habe ich diese nie gelesen.
Als ich an der Herberge ankomme bin ich verwundert Annemarie und Josef direkt vor mir in der Schlange zu sehen. Es kann doch nicht sein, dass sie gerade erst angekommen sind!? Aber es ist so, gerade wenige Minuten vor mir haben sie die Herberge erreicht. Zurück im Tal waren sie doch so flott, dass ich nicht Schritt halten wollte und konnte. Dann habe ich im Gegensatz zu ihnen noch in einer Bar Kaffee getrunken, habe im Supermarkt Obst gekauft, bin einmal nach La Faba umgedreht, habe irgendwo ein Eis gegessen um mich doch für Cebreiro zu entscheiden. All das haben sie nicht gemacht. Sie sind direkt ohne Pause nach Cebreiro gelaufen, aber im Aufstieg muß ich all die Zeit wieder eingelaufen haben, die ich mit meinen zwischenzeitlichen Aktivitäten "verloren" habe. Ich freue mich sie zu sehen und sie sind mehr als erstaunt, als ich erzähle was ich seit unsere Trennung alles gemacht habe. Aber egal, wir sind wieder beisammen in der Herberge.
Frank und einige andere Pilger sind auch da. Man kennt sich.
Inzwischen liegt das Dorf in grauen Wolken und der nächste Regenguß ist nur eine Frage der Zeit.
Ich bin in Galicien, der regenreichsten Region Spaniens, oder auch in touristischen Prospekten als "das grüne Spanien" vermarktet.






Gemeinsam gehen wir in einem Restaurant Mittag essen. Wir sitzen noch nicht lange zu Tisch, da geht das Unwetter los. Innerhalb kurzer Zeit kühlt es ab und es regnet und windet mehr als reichlich. Wieder denke ich, dass ich auf dem Weg schon so viel Glück hatte. Wäre ich eine Stunde später angekommen, wäre ich in dieses Unwetter geraten. Alle die jetzt noch unterwegs sind, und es sind viele, tun mir echt leid. Der Aufstieg ist anstrengend genug, der Weg steinig und bei Regen garantiert nicht so schön, wie bei der strahlenden Sonne die ich erlebt habe.
Den ganzen Nachmittag und die Nacht hört es nicht wieder auf zu regnen. Der Regen peitscht an die Fenster und ich bin froh im trockenen und warmen zu sein. Allein die wenigen Schritte vom Restaurant zurück zur Herberge reichten aus, um klitschnass zu werden.
Zum Abendbrot sitzen wir in der Herbergsküche und jeder tut das auf den Tisch, was der Rucksack so hergibt. Joghurt, Obst, Brot, Schokolade und was man so mit sich rumschleppt und unterwegs erstehen kann.
Es war ein wunderschöner Tag mit wunderschönen Gesrächen, Momenten und Eindrücken.
Ich fühle mich angekommen, obwohl es noch 150 Kilometer bis Santiago sind.