23. Mai
Boente – Santa Irene
Auch eine Schnecke erreicht irgendwann und irgendwie ihr
Ziel.
Ich bin in Santa Irene, mir reicht es – ich kann nicht mehr! Heute war
mal wieder nicht mein Tag. Ich kann nicht mehr, ich bin körperlich total
erschöpft, ausgelaugt und am Ende.
Heute Morgen, zu Beginn der Etappe, ist es
regnerisch, kalt und windig. Da nicht zu erwarten ist, dass das Wetter ganz bald
umschlägt ziehe ich direkt meine Regenkleidung an. Die drei Blasen am
linken Fuß, die ich mir in meinen neuen,
anfangs super-bequemen Wanderschuhen, gelaufen habe, schmerzen, aber meine Beine
sind viel schlimmer – sie wollen nicht mehr laufen und senden mir deutlich
dieses Signal. Immer wieder stolpere ich über links obwohl die Wege nicht sehr
uneben sind, ein leichter Rechtsdrall ist ebenfalls vorhanden. Ich kenne diese
Symptome, sie begleiten mich seit dem schweren MS-Schub, letztes Jahr,
kontinuierlich – mal mehr, mal weniger und heute ganz viel. Ich glaube zu
wissen was mir mein Körper mitteilt, aber ich ignoriere es momentan noch. Diese Symptome nehmen mir die Entscheidung ab, was ich mit den verbleibenden
Tagen nach meiner Ankunft mache. Der Camino Finisterre ist wunderschön, aber
sehr anstrengend und aufgrund meiner starken Erschöpfung streiche ich diese
Möglichkeit.
Nach meinem frühen Aufbruch um 7 Uhr verläuft sich die
kleine Menge aus der Herberge schnell.
Auf dem Camino Francés startet man
wesentlich früher als auf vielen Nebenwegen. Zum einem haben die Mitpilger
Angst kein Bett zu bekommen und die Bars am Wegesrand öffnen alle sehr zeitig.
Auf dem Primitivo ist niemand sonderlich früh aufgestanden, denn die frühen
Bars öffneten um 7 Uhr, die meisten aber um 7.30 Uhr. Da es oftmals auf den
Etappen keine Möglichkeit gab, nach einigen Kilometern ein Frühstück zu
bekommen, nahm man das Angebot einer kleinen Mahlzeit im Ort dankbar an, und
dann ging es los. Hier schellen die Wecker in den Herbergen, und dann geht der
Sturm los. Alle springen aus dem Bett, Rucksack packen und los rennen. Da ich
keine Lust auf diese Hetzerei habe und momentan auch nicht die allerschnellste
bin, habe ich mir in meinem Zielort ein Bett in der kleinen, schnuckeligen
Herberge in Santa Irene reservieren lassen. Mir ist es egal was meine Mitpilger
davon halten, ob sie es gut und richtig finden. Ich finde es gut, denn es
ermöglich mir einen stressfreien Tag, in dem ich mein Tempo und meine Pausen
selbst bestimme und mich nicht durch die teils große Angst vor mangelnden
Betten hetzen lasse.
Durch den Regen der Nacht ist es sehr matschig und es geht
immer leicht auf und ab, kein Vergleich zum Primitivo, aber jeder Schritt aufwärts
kommt einer Qual gleich. In der zweiten Bar am Wegesrand kehre ich zum
Frühstück ein, und pausiere eine Weile. Anschließend gehe ich weiter und ich
bereue meine Pause. Nach jeder Auszeit brauchen die Beine um wieder in den Gang
zu kommen. Laufen sie erst einmal, dann laufen sie, aber bis es so weit ist,
ist jeder Schritt einfach nur anstrengend. So entspannt, motiviert und freudig ich
auf meinem ersten Camino tagelang durch Regen und Schlamm gestapft bin, so
demotivierend ist der Weg heute für mich. Ich bin total genervt und sauer auf
mich selbst. Unter der Regenkleidung ist mir beim Laufen zu heiß,
dieSchwitzwärme staut sich unter dem Poncho und die Kledung, inclusive Jacke,
sind nass – besonders die Ärmel.
Morgen, wenn ich in Santiago bin, ist definitiv Schluss,
ich laufe keinen Schritt mehr als nötig. Das Wetter bleibt in den nächsten 4
Tagen mindestens noch unbeständig und regnerisch. Während ich mich Schritt für
Schritt vorwärts quäle rufe ich meine Familie an und bitte sie, nach günstigen
Rückflügen in den nächsten Tagen zu schauen. Ob ich nun einen neuen Flug buche,
oder ob ich mich sechs Tage lang in ein Hotel einquartiere plus Lebenskosten
tut sich nichts. Von Bar zu Bar schleiche ich
vorwärts – auch wenn ich es schon erwähnt habe: Ich kann die heutige
Etappe nicht genießen. Die Pilgermassen sind der absolute Horror.
Eine Gruppe
vor mir und auch viele andere Pilger laufen mit leichtem Handgepäck, dass nicht
mehr enthalten kann als einen Apfel und eine kleine Flasche Wasser.
Ausgerechnet ich, die ich sonst so tolerant bin und predige, dass man jeden den
Weg so laufen lassen soll, wie es für diesen passt, ist heute absolut
intolerant und die „Leichtgewichtspilger“ machen mich aggressiv. Ich weiß
nicht, was mit mir los ist, aber ich schiebe es auf meinen desolaten
körperlichen Zustand. Mein Unmut wird auch nicht besser, als ich in einer Bar
mal wieder fast 15 Minuten für die Toilette anstehe. Die Wartezeit auf eine
Tasse Kaffee ist fast genau so lang und einen Sitzplatz gibt es in der Bar auch
nicht, aber draußen regnet es und ich habe keine Lust den Kaffee auf dem
Bordstein im Regen sitzend zu trinken.
Parallel zur Straße, immer die Menge im
Auge, dessen Teil auch ich bin, finde es heute einfach nur furchtbar. Es ist
der absolute Schock wenn man nach 12 Tagen um eine Straßenecke läuft und von
jetzt auf gleich in einer Minute mehr Pilger sieht als auf dem gesamten Weg
bevor. Mir war es immer bewusst, dass es ab Melide mit der Ruhe vorbei ist,
aber dass der Weg so voll ist, habe ich nicht erwartet. 2008 war es auf dem Weg
bereits voll, aber ich habe es nie als störend empfunden, wahrscheinlich, weil
ich es vom ersten Tag an nicht anders kannte. Aber jetzt, ist der Weg richtig
voll, wesentlich voller als 2008. Was soll nur werden, wenn das Buch von Hape
Kerkeling verfilmt wird und womöglich ein weiterer Ansturm beginnt?!
Immer mal wieder hört es auf zu regnen, der Himmel wird
heller und ich ziehe meine Regenkleidung aus. Sobald der Poncho über dem
Rucksack hängend fast getrocknet ist, beginnt es erneut zu regnen.
Ich will
heute einfach nur mein Tagesziel erreichen, der Weg zieht sich in die Länge,
aber irgendwann bin auch ich da. Auf der heutigen Etappe habe ich gar nichts
von 2008 wieder erkannt, nur die Straßenunterquerung kurz vor der Herberge kam
mir bekannt vor. Ich hätte gedacht, dass ich vieles direkt wieder erkenne, dass
sich die Bilder vom Weg in mein Gedächtnis eingebrannt hätten, aber scheinbar
ist dem nicht so. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich auch 2008 die
letzten Tage nur durch Regen gelaufen bin, dazu noch in Begleitung und
erzählend mit meinem ungarischen Pilgerfreund Sandor – und außerdem sah es heute
fast überall gleich aus - über Kilometer nur Eukalyptuswälder.
Einen Kilometer vor Santa Irene gibt es heute drei
Restaurants und eine Bar direkt im Dorf. 2008 gab es nur ein Restaurant vor dem
Ort, mehr nicht. Die Herberge ist sehr gemütlich, ein Kaminfeuer brennt und nach
einer Dusche und Siesta bin ich irgendwann wieder so fit, dass ich den Weg bis
zu den Restaurants zurücklaufe. In einer Bar finde ich einen PC mit
Internetzugang, bestelle mir einen leckeren Kaffee und beginne im Internet nach
günstigen Rückflügen zu suchen.
Es ist nicht so leicht einen passenden Flug zu
finden. Von Santiago aus ist alles ausgebucht oder irre teuer. Letztendlich
finde ich einen günstigen und zeitlich passenden Direktflug von Bilbao nach
Düsseldorf – so wie ich auch angereist bin.
Morgen, am Samstag, werde ich
Santiago de Compostela erreichen. Am Sonntag habe ich Zeit die Stadt zu
genießen und abends werde ich den Nachtbus nach Bilbao nehmen. Dieser braucht
fast 10 Stunden, aber anders geht es nicht.
In der Herberge kenne ich erstmals niemanden. Ich bin der
absolute Exot vom Primitivo, alle anderen kennen sich seit langem und sind den
Francés gelaufen. Und dennoch wird es ein netter Abend. In der Herberge wird
für uns gekocht, es wird gelacht und erzählt.
Eine Reisegruppe lässt morgen ihr Gepäck nach Santiago
transportieren und ich überlege es ihnen gleich zu tun um mich am letzten Tag
nicht so quälen zu müssen. Diesen Gedanken verwerfe ich ganz schnelle wieder,
denn es ist technisch nicht möglich. Um das Gepäck transportieren zu lassen,
muss man eine Pension, Herberge oder ein Hotel vorgebucht haben, ohne
Reservierung geht es nicht. Und da ich für Santiago nichts vorgebucht habe,
werde ich morgen, so wie immer, meinen Rucksack an das Ziel tragen.
Es werden noch drei anstrengende Tage werden. Morgen die
Zieletappe, übermorgen Santiago genießen und abends dann die Rückreise, die nicht ohne
ist. 32 Stunden mit Busfahrt, Aufenthalt in Bilbao und Rückflug und Zugfahrt
durch die Nacht bis in die frühen Morgenstunden in denen ich keinen Schlaf
bekommen werde. Mein Nachbar wird mich vom Bahnhof abholen, aber ich möchte
einfach nur nach Hause und dann wird geschlafen!!!