Die Geschichte meines Jakobsweges:
Camino Francés: (Pamplona – Santiago de Compostela): Mai 2008 --- geschrieben Oktober 2010

Via de la Plata (Sevilla – Salamanca): April/Mai 2010 --- geschrieben Dezember 2010

Via de la Plata (Salamanca – Santiago – Muxia): April/Mai 2011 --- geschrieben Mai/Juni 2011

Camino del Norte: (Hondarribia – Gurriezo): Juni 2012 --- geschrieben Juli 2012

Camino Primitivo (Oviedo - Santiago de Compostela): Mai 2014 --- geschrieben Mai bis September 2014

Camino Ingles 2017 Camino Portugues 2022



30. Mai 2023

Rates- Barcelos

In der Herberge von Rates habe ich mich sehr wohl gefühlt. Sie ist alt, die Sanitäranlagen nicht wirklich in gutem Zustand, aber geprägt von Atmosphäre, lieben Menschen und ganz viel Engagement.

Die Hospitalieros waren einfach lieb und nett und waren bemüht es jedem Einzelnen gut und recht zu machen. Dass sich Christina abends noch kurz hat blicken lassen hat mich sehr gefreut. Optisch konnte ich sie im Dunkeln, nur beleuchtet durch den Schein ihres Feuerzeugs nicht wahrnehmen, aber es ist ein gutes Gefühl, für die Zeit meiner Reise einen Ansprechpartner zu haben.

Erwartungsgemäß war die erste Nacht in der Herberge nicht so erholsam wie die Nächte zuvor, aber für ein Zimmer mit 16 Betten war es relativ ruhig. Ungewohnt war es, auf einer quietschigen Gummimatratze zu schlafen. Da mein Rucksack transportiert wird, und es auf einige wenige Gramm nicht ankommt, habe ich meinen Seidenschlafsack dabei. In dem Mehrbettzimmer mit dem kleinen Fenster ist es stickig und warm, und ich bin froh, den Seidenschlafsack an den Bettenden auf der Matratze festgebunden zu haben. So kann ich den Schlafsack lose über mich legen und klebe nicht auf dem Gummi.

Aus Hygienegründen ist die Gummimatratze sicherlich sinnvoll, komfortabel ist es aber ohne Bettlaken nicht und wer schleppt schon ein Bettlaken über den Jakobsweg.

Ich weiß nicht mehr wann die Nacht zu Ende war, aber zeitig erwachten die ersten Mitpilger und das Zimmer leerte sich schnell.

Auf meinen früheren Wegen hat es mich morgens in der allgemeinen Aufbruchstimmung auch nicht im Bett gehalten, aber ich habe Zeit und gleichzeitig können nicht alle in das Bad. Ich döse noch etwas, beobachte die Aufbruchsstimmung und als das Zimmer sich leert stehe ich als letzte auf. Es ist noch immer früh, noch vor 7 Uhr. Der Wirt der gegenüberliegenden Herberge hat mir gestern gesagt, dass er ab 7 Uhr da ist, auch wenn er erst ab 8.00 Uhr öffnet und ich könne meinen Rucksack dann bei ihm abgeben. Ich sitze vor der Bar, es ist schon 7.45 Uhr und der Wirt ist noch immer nicht da. Ich weiß nicht, wie oft ich darauf angesprochen werde, dass die Bar erst um 8.00 Uhr öffnet. Ja ich weiß, aber ich bin laufe ohne Rucksack und möchte ihn hier abgeben zwecks Abholung. Verständnis erwarte ich nicht und das Gefühl von Akzeptanz sehe ich bei niemandem.

Der Himmel ist grau, für heute ist Regen angesagt, laut Vorhersage ab 16.00 Uhr, aber der Blick nach oben passt gefühlt nicht zur Ankündigung.

Auf der Suche nach dem Hospitaliero treffe ich ihn als er gerade im Pyjama aus seinem Zimmer kommt. Er verspricht mir, meinen Rucksack in der Bar abzugeben und ich mache mich beschwingt und erleichtert auf den Weg.

Mein Gefühl sagt mir, dass ich dem Regen davon laufen oder zuvor kommen muss.

Bis zum Dorfende sind es nur wenige Meter und schnell bin ich auf der Landstraße und aus dem Dorf raus. Schon gestern fiel mir auf, dass die enge Dorfstraße aus Kopfsteinpflaster als Rennstrecke fungiert. Den ganzen Nachmittag und auch in der Nacht rasten wiederholt total verdreckte Jeeps im Affentempo durch das Dorf. Diese Jeeps begegnen mir auch heute noch auf den ersten Kilometern hinter Rates. Auf dem engen Landsträßchen, ohne Fußweg, muss man höllisch aufpassen. Man hört nur einen näher kommenden Krach und dann muss man auf den Seitenstreifen springen. Sicher ist sicher, die Kurven sind nicht überschaubar.


   



Auch wenn der Himmel grau ist, ist die Beleuchtung sehr schön. Über schöne Feldwege geht es immer leicht auf und ab. Gründe Felder, sandige Feldwege, Bäume, kleine Mauern und immer wieder einige Blumen. Die Mauern sind heute wesentlich ansprechender, gemütlicher und passen besser in das Landschaftsbild. Sie sind aus Feldsteinen und säumen in niedriger Höhe den Weg und die Felder ein.




 Es sind nicht mehr die hohen, „gefängnisartigen“ Mauern wie gestern. Sie passen in das Landschaftsbild und wirken gemütlich. Die Fingerhüte und die wild blühenden weißen Blumen runden das Bild ab. An einer Stelle ist eine Mauer zusammengebrochen/umgefallen und die Steine liegen neben dem Weg. Mir ist spontan danach und ich mache das was ich auf früheren Wegen häufig gesehen habe. Mitten auf den Weg, der nicht zu verfehlen ist, lege ich einen Wegweiser aus den Mauersteinen. Warum nicht? Auch wenn der Himmel nicht heller wird, bin ich nicht auf der Flucht, ich genieße den Weg und nehme mir die Zeit dass zu tun, wonach mir ist.



 

Ich schlendere vor mich hin, Pilger sehe ich nicht, sie sind alle vor mir aufgebrochen – aber ich bin nicht einsam. Meine Gedanken gehen zu meinen Pilgerfreunden die in Gedanken mit mir gehen und meinen Weg verfolgen. Seit meinem ersten Jakobsweg 2008 hat sich ein toller Freundeskreis entwickelt – unsere Wege verbinden uns. Einige laufen noch immer munter über die verschiedenen Jakobswege oder andere Wanderwege, einige können aus gesundheitlichen Gründen sich nicht mehr auf Pilgerschaft machen und einige haben ihre Pilgerreise im irdischen schon beendet.

Alois, mein Pilgerfreund von der Via Plata, schwebt über dem Weg genau wie Klaus und Hermann.Klaus wurde auf dem Kopfkissen mit Pilgersymbolen, dass ich ihm genäht habe, beerdigt. Sein Pilgerhut, die Wanderschuhe, Rucksack und Stock standen mit auf dem Friedhof.Solange jemand an einen denkt, ist man nicht tot.

So vor mich hin sinnend und die Natur genießend komme ich an einem schönen Rastplatz vorbei. Eingesäumt ist dieser von einer Mauer die mit bepflanzten Schuhen umgeben ist. Des weiteren liegen bemalte Steine und Steinmännchen auf der Mauer. Dazu bunte Fähnchen und ein Gebetskasten mit einem kitschigen Marienbild.




Nicht, dass es reicht, dass ich auf dem steinigen Weg oftmals genau schauen muss wo ich hintrete um nicht zu stürzen, auch dieser Rastplatz ist aus holperigen Betonsteinen betoniert.

Wäre das Wetter etwas schöner, hätte ich mich wahrscheinlich hingesetzt, aber noch ist mir nicht nach Pause und ich freue mich auf die erste Bar am Wegesrand – wann und wo auch immer sie kommt. Kurze Zeit später treffe ich auf den ersten Monolithen mit Kilometerstandanzeige. Es sind noch 209 Kilometer nach Santiago. Ich bin heute auf meiner vierten Etappe und habe gerade mal 40 Kilometer gelaufen, aber egal – ich bin unterwegs und bis zum heutigen Etappenziel sind es noch etliche Kilometer.

Auf den Monolithen lege ich einen Stein ab. Ich mag diesen Gedanken mit den Steinen seine Sorgen, aber auch Wünsche abzulegen. Diese Steinmännchen sind so charakteristisch für die Jakobswege.



Der Feldweg biegt auf eine Landstraße ab und an einem Laternenmasten hängt das Hinweisschild auf die nächste Bar. Eigentlich würde der Weg nach einigen Metern wieder von der Straße abbiegen, aber ich folge gerne den 150 Metern auf der Straße.

Ich setze mich draußen unter das Vordach und treffe auf einige Mitpilger deren Gesichter ich aus der Herberge in Rates kenne. Ihre Namen kenne ich nicht – aber wir grüßen uns.

Das belegte Brötchen ist nicht wirklich lecker, es ist trocken mit etwas Käse und Kochschinken belegt, aber es tut gut und eine Pause ist immer gut, außerdem mit Kaffee rutscht auch ein trockenes Brötchen. Meine Mitpilger hätte ich viel weiter vor mir erwartet, aber wer sagt denn, dass alle über den Weg rennen müssen? Vielleicht haben sie auch ihre Pause ausgedehnt, oder ich bin doch nicht so langsam. Ich bekomme mit, dass überlegt wird, ob man über eine gegenüberliegende Seitenstraße wieder auf den Weg kommt, oder ob man die 150 Meter zum Weg zurückläuft.

Meine Mitpilger biegen in die gegenüberliegende Straße ein und bald verliere ich sie aus den Augen.

Ich laufe die 150 Meter bis zur Weggabelung zurück und biege auf den Feldweg ab, so wie ausgeschildert und kurze Zeit später habe ich die Gewissheit – ich hätte meinen Mitpilgern folgen können (ich habe es mir gedacht), aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. An den Steinmauern stehen Rosen, Callas, und andere bunte Blumen und ich erfreue mich einfach an den Farben, die auch bei grauen Himmel leuchten. 




Es ist nicht kalt, nur eben bedeckt. Irgendwann komme ich auf eine eigentlich kleine, kurvige Straße – natürlich ohne Seitenstreifen – und die Autos rasen wie bekloppt um die Kurven. Am Straßenrand ist auch kein Platz zur Seite auszuweichen. Also folge ich dieser engen Straße, immer mit der Angst, dass ich mit meinem Rechtsdrall stolpere und einem Auto direkt vor die Nase falle. In dieser Situation fühle ich mich nicht sonderlich wohl. Für einige Meter geht es auf einem Grünstreifen durch einen Acker und ich denke, okay – Straße beendet, nur um nach wenigen Metern wieder auf der Straße zu landen. Wieder treffe ich auf eine Bar am Straßenrand, ich benötige keine Pause, aber ich möchte meinen Wasservorrat auffüllen und so betrete ich diese Bar. Ich freue mich über ein liebevoll gestalteten Tresen mit Jakobsfigur und es es liegt ein Gästebuch aus. Diese Gästebücher, die mir besonders auf der Via Plata aufgefallen sind, mag ich sehr gerne. Ich stöbere etwas in diesem Buch und lass auch einen Rückblick auf meinen bisherigen Weg dort zurück.




Nicht viel später komme ich zu einer Stelle auf der es zwei Wegalternativen gibt. Die kürzere Aternative nach Barcelos führt weiter am Straßenrand entlang, bleibt aber ungefähr in der gleichen Höhe ohne große Steigungen. Die Alternativroute führt von der Hauptstraße auf ein kleines Sträßchen, aufwärts zu einem kirchlichen Heiligtum und einer weiteren Kirche mit 2,9km Umweg.

Auch wenn ich die Regenwolken im Blick habe und mir sicher bin, dem Regen nicht zu entkommen, entscheide ich mich für den Aufstieg und Umweg. Endlich weg von dieser blöden Straße. Ich nehme an, dass die Straße heute ähnlich zu der gestern war, wäre ich nicht die Alternative nach Rates gelaufen.

So mache ich mich auf den Weg bergauf. Eine Kurve nach der anderen, umgeben von Wald.





Mir wird ordentlich warm, aber kalt war mir auch vorher nicht, und steige Schritt für Schritt die Straße hinauf. Immer wieder kann ich einen Blick durch die Bäume in das Tal werfen.

Irgendwann sehe ich die Kirche, umgeben von einem großen ansteigendem unter Bäumen liegenden Rastplatz, vielen Parkplätzen und ganz viel Platz.




Ich genieße den Blick in das Tal und gehe einmal um das Gelände herum. Die Kirche ist sehr kitschig – aber typisch für Portugal. Auf der großen Aussichtterasse setze ich mich eine Weile hin und genieße meinen Apfel. Gerne hätte ich an dieser Kirche einen Stempel für meine Credencial, aber es gibt keine Stempelstelle und die Bar auf dem Gelände ist geschlossen. 






Bei meiner Ankunft an dieser Kirche habe ich irgendwo den gelben Pfeil gesehen, finde ihn aber spontan nicht wieder. An der abwärts führenden Straße die ich gekommen bin ist ein gelbes Kreuz, ein eindeutiges Zeichen, dass der Weg hier nicht her führt. Und so laufe ich noch eine Runde um die Kirche und finde meinen Wegweiser. Auf einer moosigen Treppe mit hohen Stufen geht es abwärts und ausgerechnet jetzt fängt es an zu regnen. Vorsichtig, durch meine Stöcke gesichert, steige ich unsicher die Treppen hinunter. Was, wenn mir hier irgendwas passiert? Ich habe schon lange niemanden getroffen. Mir ist nach Heulen zu Mute, ich habe Angst vor meiner eigenen Courage. Was denke ich mir dabei, einen solchen Weg zu gehen? Was mache ich hier gerade. Durch den Regen wird der steile Weg schlüpfriger, dazu Blätter und viele sich unter meinen Tritten bewegende Steine. Wahrscheinlich hätte ich auch die einzige Straße in das Tal abwärts nehmen können. Mein Gefühl sagt mir, dass ich auf meinem Weg die Kurven zwischen den Straßen abkürze.




Der Weg ist schön, Wald, Moos, alles grün mit sandig-steinigen Wegen und Treppen und ich kann überhaupt nicht genießen. Unter meinem Regencape schwitze ich und fühle mich genauso feucht, wie ohne Cape. Für eine gewisse Zeit bin ich fertig mit mir und der Welt. Aber ich habe jetzt keine Alternative, also weiter langsam hinunter. Schritt für Schritt und irgendwann ist es geschafft. Der steil abfallende Weg geht in eine betonierte Straße über und führt immer noch steil hinab, aber ich sehe ein Dorf unter mir und habe es kurze Zeit später geschafft.




Auch wenn es noch 5-6km bis Barcelos sind fühle ich mich erleichtert und auch der Regen lässt wieder nach. Über einen Bürgersteig geht es durch das Dorf und dann wieder auf einen Feldweg – und ich sehe nach langer Zeit wieder Pilger vor mir. Die letzten 5km laufen sich leicht. Erst komme ich in den Stadtteil Barcelinos, dann geht es über einen Flussbrücke und ich bin in Barcelos.




Die Herberge hat laut Pilgerführer noch nicht geöffnet und so setze ich mich mit einem Kaffee in eine Bar. Ich lege meine Beine hoch, quatsche etwas mit den Pilgern und mache mich auf den Weg zur privaten Albergue von Barcelos. Irgendwie sind die Herbergen für mich auf diesem Weg schwerer zu finden, oder nicht immer so gut ausgeschildert. Ich laufe durch das Städtchen und biege irgendwo in eine Seitenstraße ab und finde meine Herberge. Der Eingangsbereich sieht urig aus, mein Rucksack steht in der Nähe des Einganges und kurze Zeit später checke ich ein. Nach mir kommen noch einige Pilger auf der Suche nach einem Bett, aber die Herberge ist ausgebucht.

Ich bekomme ein Etagenbett in einem relativ dunklem Schlafsaal, wieder die gewohnten Gummimatratzen. Es ist gemütlich und die Etappe vier ist trotz einiger Schwierigkeiten geschafft.Zufällig sehe ich hinter einer offenen Tür ein kleines Vierbettzimmer und frage, ob ich dorthin umziehen könnte. Nein, das Zimmer ist für ältere und gebrechliche Pilger reserviert.Ich weise auf mein Handicap hin und darf umziehen. Nach mir kommt noch ein älteres, aber fittes Ehepaar und wir dürfen und wir übernachten in diesem Raum zu dritt. Komischerweise schlafen oben im Saal Pilger auf einer Matratze auf der Erde.Ich dusche, wasche meine Wäsche, ruhe mich etwas aus und mache mich, nachdem der nächste Schauer vorbei ist, auf den Weg in das Städtchen. Ich schaue mir die runde Kirche mit den weiß-blauen Fliesen an, laufe ziellos noch etwas umher und schreibe dann bei einem Kaffee in einer Bar mein Tagebuch.




Im Alltag schreibe ich nie Tagebuch, aber auf meinen Wegen war es mir immer wichtig meine Gedanken und meinen Weg zu beschreiben. Es hat sich auf den vielen Wegen zu einer schönen Routine entwickelt die ich immer genieße. Beim Schreiben sinniere ich über den Weg und meine Gedanken, über die vielen schönen Eindrücke.



Die Wege sind ganz tief in meinem Inneren verankert. Sie sind mir ein Bedürfnis, machen so viel Positives mit mir. Das Gefühl für den Weg wird immer bleiben, aber die vielen kleinen und kurzen Gedanken möchte ich nicht vergessen.

Überdacht im Innenhof der Herberge gibt es noch einige nette Gespräche, irgendwann kommt eine große italienische Fahrradgruppe und wir müssen den kleinen überdachten Innenhof räumen, weil die Fahrräder dort geparkt werden.

Wie üblich für den Weg liege ich zeitig im Bett. Heute brauche ich lange zum Einschlafen, die Gummimatratzen und Bettgestelle quietschen, ich höre noch Stimmen vor dem Fenster, aber irgendwann schlafe ich müde, erschöpft und glücklich ein.