12. Mai 2014 Escamplero – Doriga, 21km
Abends, nachdem ich mit meinen Mitpilgern vom Essen komme,
sind alle Fenster (wie leider fast immer im Spanien) verriegelt und verrammelt.
Nur keine frische Luft und bloß keine Helligkeit in den Schlafraum lassen. Bisher
war es auf jedem Weg das gleiche Phänomen. Egal wie heiß es draußen ist, ob 100
Personen in einem winzigen Raum schlafen, die Fenster müssen geschlossen werden. Scheinbar bin
ich die Einzige, die ein Verlangen nach Frischluft hat.
Ich benötige lange bis ich einschlafe, denn mir ist heiß.
Meinen Schlafsack mag ich nicht geöffnet über mich legen, da das Bett/die
Matratze nicht wirklich einladend ist. Irgendwann schlafe ich aber gut und irgendwann, es ist noch
dunkel, ist die Nacht plötzlich vorbei. Um 5.30 Uhr springen fast alle
Mitpilger aus dem Bett und beginnen eifrig und laut in den Rucksäcken
zu kramen. Wie immer bleibt bei dieser Aufsteh- und Packsituation das Licht
aus. Durch die Enge und das gleichzeitige Aufstehen von 11 Mitpilgern
entsteht viel Lärm und Chaos. Die Tür wird geöffnet und geschlossen, rein und
raus. Warum drückt nicht irgendwer auf den Lichtschalter? Auch wenn ich noch in
meinem Schlafsack liege: Alle sind wach – bei dem Lärmpegel kann man einfach
nicht schlafen. Ich erkundige mich nach der Uhrzeit und erfahre, dass es
noch nicht einmal 6 Uhr am Morgen ist. Was wollen alle meine Mitpilger da
draußen in der Dunkelheit? In dem
kleinen Raum vor dem Schlafsaal wird gefrühstückt, Tee gekocht und abgewartet,
dass die Dämmerung einsetzt. Laut meiner Info im Wetterbericht geht die Sonne
heute um kurz nach 7 Uhr auf. Nachdem alle Mitpilger im Eiltempo die Herberge
verlassen haben, stehe ich auf und bereite mich auf den Abmarsch vor. Den
Rucksack habe ich
am Abend zuvor gepackt (wie auf allen meinen Wegen). Mein Schlafsack und meine Crocs muss ich morgens
einpacken, der Zip-Beutel der als Kulturtasche dient, liegt zu oberst im
Rucksack. Auch wenn niemand eine Morgentoilette durchführt, Zähneputzen und
Haare kämmen muss sein. Alles andere erfolgt nach der Ankunft am Zielort.
Nachdem alles verstaut ist setze ich mich auf den kleinen Balkon am
Treppenaufgang und warte darauf, dass die Dämmerung einsetzt. Ob die drei Damen
im Luftmatratzenlager noch da sind, weiß ich nicht. Die Tür ist geschlossen und
durch die Fenster kann ich nicht schauen. Dass ist mir noch nie passiert: Ich
bin (wahrscheinlich) die letzte startende Pilgerin. Eigentlich soll die letzte
Person in der Herberge den Schlüssel zum Hotel bringen, aber da ich nicht weiß,
ob nicht vielleicht doch noch wer auf der Luftmatratze liegt, beschließe ich,
den Schlüssel von außen stecken zu lassen und mich auf den Weg zu machen (nicht
dass die drei Damen aus dem Untergeschoss nicht in die Küche können – falls sie
denn möchten). Um 7 Uhr, es dämmert, breche ich zu meiner heutigen Etappe
auf. Geplant habe ich die 16,7km bis zur Herberge in San Juan de Villapanada. Ich
habe genügend Zeit für meinen Weg eingeplant und möchte mich am Anfang nicht
übernehmen. Ohne Proviant und ohne Wasser hoffe ich bald eine Bar zu finden.
Über kleine Landstraßen geht es bei bedecktem Himmel Richtung Grado.
Laut
Wegbeschreibung soll es nach nicht mal einem Kilometer im nächsten Dorf eine
Bar geben. Das Dorf ist schnell erreicht, aber die Bar gibt es nicht mehr.
Nicht, dass ich nicht nüchtern laufen könnte, aber ich fühle mich unwohl kein
Wasser im Rucksack zu haben. Niemals mehr werde ich eine leere Wasserflasche
entsorgen bevor ich neues Wasser habe – und sei es Leitungswasser. Es fängt
leicht an zu regnen und ich bin gerade dabei meinen Poncho auszupacken, als der
Schauer auch schon vorbei ist. Das Sträßchen lässt sich gut und einfach laufen.
Es schlängelt sich durch flache Hügel, mal auf, mal ab, aber ohne nennenswerte
Steigung.
Auch die Bar in Promono nach 4,3km gibt es nicht. Zum Glück ist es
nicht heiß und zum Glück kommen momentan keine steilen Anstiege, sonst wäre ich
ohne Wasser schlecht dran. Von der Landstraße biegt der Weg auf Feld- und
Naturwege ab, zum Teil führt der Weg an einem Fluss entlang.
Irgendwann
überquere ich den Fluss auf einer Brücke, bevor ich auf der Gegenseite des
Flusses einen Teil der Strecke zurücklaufe, die ich zuvor gekommen bin. Auch
heute sehe ich wieder viele Rosen am Wegesrand. Die Rosen blühen farbenreich
und geruchsintensiv und es macht mir sehr viel Spaß die Blütenpracht zu
bestaunen. Es riecht herrlich süß, es erinnert mich an den intensiven Duft von
Heckenrosen, die man oft auf den Nordseeinseln findet und die an
windgeschützten Stellen in den Dünen ihren vollen Duft entfalten.
Viele Katzen
sehe ich, teils schon mit Jungtieren. Leider verstehen die spanischen Katzen
mich nicht, lassen sich nicht streicheln, aber ich erfreue mich an ihrem
Anblick. Wie es meinen beiden Süßen in ihrem Urlaubsdomizil ergehen mag? Nach etwas mehr als 10km erreiche ich Penaflor und ich freue
mich, in der Ferne die typischen Plastikstühle, Sonnenschirme und Tische vor
einer Bar zu sehen. Endlich Frühstück, endlich Wasser! Aber auch hier wird es
nichts mit dem Frühstück. Zwar gibt es die Bar, wie beschrieben, aber leider
hat sie Montags Ruhetag. Also wieder nichts mit Frühstück und Kaffee. Da mir
aber nach einem Päuschen ist, setze ich mich vor die Bar und genieße das
Ausruhen. Obwohl die Bar heute geschlossen hat, laufen Personen in die Bar.
Aber es sind Einheimische, vielleicht gehören sie zum Betrieb, ich bekomme
nichts. Obwohl ich kurz vor der Abreise noch beim Orthopäden war, tut mir mein
rechter Vorfuß weh. Nach wenigen Kilometern, so war es auch gestern, fängt der
Vorfuß an zu schmerzen und zu stechen und es fühlt sich an, als ob ich direkt auf den Knochen
laufe. Mist, denn die Schmerzen verringern die Freude am Laufen. Vor der Bar
sitzend kommt mir Ursula entgegen. Ursula wohnt nur wenige Kilometer entfernt
von Münster und wir sind uns gestern in der Herberge von Escamplero begegnet.
Wo kommt Ursula denn nun plötzlich her – sie ist doch mindestens eine halbe
Stunde vor mir gestartet? Ursula setzt sich zu mir und schnell erfahre ich,
dass sie sich in der Dunkelheit um etliche Kilometer verlaufen hat. Der frühe
Start in der Dunkelheit hat ihr nicht viel gebracht, außer dass sie bei ihrem
Umweg eine Bar gefunden und bereits gefrühstückt hat. Gemeinsam setzen wir
unseren Weg nach Grado fort und lernen uns kennen und erzählen über unser
Leben, unsere Beweggründe sich auf den Weg zu machen, und über unsere
gelaufenen Wege.
Über Pisten gelangen wir nach weiteren 3
Kilometern nach Grado. Grado ist ein kleines Städtchen und nach einigen Metern
durch die Innenstadt biege ich in eine Bar ab.
Nach 13km freue ich mich auf ein
Frühstück, derweil Ursula weiter läuft. Ich genieße ein belegtes Brötchen
(Pincho) und eine große Tasse Caffee con leche, derweil ich meine Beine
hochlege und für einige Zeit pausiere. Leider kann man auch in dieser Bar keine
großen Wasserflaschen kaufen (war auf meinen bisherigen Wegen in allen Bars
möglich), aber da Grado ein kleines Städtchen ist, mache ich mir keine Sorgen –
irgendwo werde ich einen Supermarkt finden. Die Touristeninformation liegt
direkt am Weg, laut Schild müsste sie geöffnet haben, es leuchtet Licht in dem
Raum, aber dennoch ist die Tür verschlossen. Ich warte eine kurze Weile und
setze meinen Weg fort ohne einen Stempel aus dieser Stadt in meiner Credencial
zu haben. In einer Seitenstraße finde ich eine Frutteria und besorge mir
Proviant und das fehlende Wasser. Mit zwei Bananen, einem Apfel, frischen
Erbsen und 3 Liter! Wasser setze ich meinen Weg fort. Kurz nachdem ich Grado
verlassen habe, meldet sich mein Handy und ich erhalte eine Antwort auf eine
sms von gestern. Zwecks Streckenplanung habe ich mir gestern immer wieder
Gedanken gemacht, wie weit ich laufen möchte – oder kann. Bis San Juan de
Villapanada sind es, laut Buch, 16,7 Kilometer, bis zur nächsten größeren
Herberge in Cornellana 25 Kilometer. Zwischen diesen beiden Kleinstädten oder
Großdörfern liegt ein winziges Dorf mit nur wenigen Häusern, in dem es eine
winzige Albergue mit 5 Betten gibt. Da mir die 5 Betten sehr unsicher
erschienen, und mein Lauftempo nicht das Schnellste ist, habe ich versucht die
private Albergue in Doriga anzurufen, aber niemanden erreicht. So habe ich noch
einen zweiten Versuch gestartet und eine sms an die Herberge geschickt, aber keine
Antwort erhalten und beschlossen unter dieser Voraussetzung nach San Juan de
Villapanada zu laufen. Nun, da ich weiß, dass mir ein Bett sicher ist,
disponiere ich um. Heute also nicht16,7 km sondern 21 Kilometer bis Doriga. Vor
Doriga liegt noch ein Berg mit einem steilen Anstieg und steilen Abstieg, aber
so muss ich morgen einen Berg weniger bezwingen. Es ist noch früh am Tag, bei
meiner Ankunft in Grado war es gerade 10.30 Uhr. Bis San Juan sind es keine
vier Kilometer mehr und was soll ich so früh in der Herberge?! Von Grado geht
es ein kurzes Stück den Berg hinauf und weiter über Landstraßen durch kleine
Dörfer bis zur Abzweigung zur Herberge von San Juan.
Heute, und auch an dieser Kreuzung, stelle ich mir mal
wieder die Frage: Warum finde Spanier große Hunde, insbesondere deutsche
Schäferhunde, so toll? Schäferhunde habe ich optisch noch nie leiden mögen und
hier begegne ich diesen an fast jeder Straßenecke. Die meisten sind angeleint,
aber ich erschrecke mich jedes Mal wenn ein großer Hund plötzlich auf mich
zurast. Meist sehe ich erst nach einem Moment, dass der Hund an der Hofleine
ist, und mich nicht erreichen kann. Dazu immer das wilde Gebelle. Jedes Mal rutscht
mir mein Herz in die Hose. Da sind mir Katzen und kleine Hunde wesentlich lieber (wenn auch diese beißen können).
Hinter dem Abzweig zur Herberge wird die Straße richtig
steil. Innerhalb kurzer Zeit, laut Buch 1,3km, geht es ca. 120 Höhenmeter
aufwärts. Schritt für Schritt laufe ich aufwärts, bleibe stehen, atme tief
durch, mache ein Foto und weiter geht es. Ich Flachlandtiroler! Aber auch ich
bewältige den Aufstieg, auch wenn ich dabei keine Rekordgeschwindigkeiten
aufstelle. So anstrengend wie der Aufstieg ist, so schön ist der Ausblick über
die Hügel und Berge in der Umgebung. Auch wenn der Himmel grau ist, kalt ist es
nicht und bei dem Anstieg wird mir sehr schnell sehr warm. Auf einer Weide neben dem Weg schert ein Schäfer sein Schaf mit einer Schere und ich schaue eine Weile zu. Das Schaf läßt die Prozedur anstandslos über sich ergehen.
Hinter einer Kurve
ist der steile Anstieg plötzlich vorbei und vor mir sehe ich den Weg steil
abfallen. Bevor ich mich an den Abstieg über die Schotterpiste mache, setze ich
mich auf eine grüne Wiese am Wegesrand und mache ein weiteres Päuschen. Ich
habe alle Zeit der Welt, es stehen keine Termine in den nächsten beiden Wochen
an. Zeit für mich, Zeit zum Laufen und Genießen. Auf der Wiese sitzend genieße
ich mein klares, kühles Wasser! Herrlich, etwas Besseres als Wasser gibt es
nicht. Dazu pule ich meine Erbsen aus ihren Schoten, esse eine Banane und bin glücklich den ersten
Anstieg geschafft zu haben.
Von der Spitze dieses Berges schicke ich eine
Nachricht mit Fotos nach Hause, habe zu diesem Zeitpunkt aber keine Ahnung,
dass ich ohne Wifi keine Nachrichten versenden kann. Seit kurzem habe ich eine
modernes Smartphone, dass viel zu modern für mich ist und mit dessen Technik
ich mich noch nicht genau auseinander gesetzt habe. Mein Vater hat es mir
geschenkt, nachdem er sich ein neueres Modell zugelegt hat. Anschließend mache
ich mich an den steilen Abstieg. Der Schotter ist rutschig unter meinen Schuhen
und wieder bin ich froh meine Wanderstöcke zu haben.
Ich erreiche ein nettes
Dorf und glaube meinen Etappenort erreicht zu haben. Auf Nachfrage wo die
Herberge ist, erfahre ich, dass ich noch einen Ort weiterlaufen muss.
Weiter
geht es leicht abwärts durch dichtes Grün, über Steine und durch Schlamm und
dann erreiche ich Doriga.
Doriga ist ein winziges Dörfchen, bestehend aus nur
wenigen Häusern, ohne Straße. Eine Holperpiste führt durch das Dorf. Neben den
wenigen Häusern gibt es eine (geschlossene) relativ große Kirche, ein
ehemaliges Schloss und eine Bar.
Im Garten der Bar steht ein Gartenhäuschen in
dem sich zwei Etagenbetten und ein Einzelbett befinden. Ich bin Pilger Nr. 2,
vor mir ist ein Ire angekommen und mehr werden wir an diesem Tag auch nicht
mehr. Die Gartenhausalbergue ist komfortabler als die gestrige Herberge. Im
Garten stehen Tische und Stühle, im Flur hinter der Bar gibt es Toilette und
Dusche.
In der Bar bekomme ich alles was ich brauche und gemeinsam mit meinem
Mitpilger esse ich ein verspätetes Mittagessen. Beim Essen lernen wir uns
kennen, erzählen etwas und danach ziehe ich mich zurück. Der Dorfrundgang ist
schnell beendet. Ich schaue mir das Schloss (nehme ich an) von außen an, setze
mich in den Garten und schreibe Tagebuch. Auch wenn der Himmel bedeckt ist,
trocknet die Wäsche auf der Leine gut, denn es ist sehr windig. Ich bin umgeben
vom Grün der umliegenden Weiden und mich begleiten bis in den Schlaf hinein das
Wiehern von Pferden, das Muhen und die Glocken der Kühe und das laute
iaah-Schreien von einem Esel. Es war ein schöner Tag mit einem zum Schluss steilen An- und
Abstieg begleitet von vielen Kräuter-, Blumen- und Baumdüften und einem fast
ständigen Plätschern von kleinen Wasserläufen und Bächen. Einfach schön hier zu
sein, auf dem Weg, von dem ich seit der Via Plata träume.
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