Die Geschichte meines Jakobsweges:
Camino Francés: (Pamplona – Santiago de Compostela): Mai 2008 --- geschrieben Oktober 2010

Via de la Plata (Sevilla – Salamanca): April/Mai 2010 --- geschrieben Dezember 2010

Via de la Plata (Salamanca – Santiago – Muxia): April/Mai 2011 --- geschrieben Mai/Juni 2011

Camino del Norte: (Hondarribia – Gurriezo): Juni 2012 --- geschrieben Juli 2012

Camino Primitivo (Oviedo - Santiago de Compostela): Mai 2014 --- geschrieben Mai bis September 2014

Camino Ingles 2017 Camino Portugues 2022

Cadavo-Baleira - Casroverde



19. Mai 2014

Cadavo-Baleira – Castroverde



Die Nacht in der Albergue von Cadavo-Baleira war erholsam und ruhig.

Nach mir sind noch etliche Pilger angekommen und etliche von ihnen kannte ich. Wir waren uns immer mal wieder auf dem Weg begegnet, hatten aber nachts selten die gleichen Unterkünfte oder nur selten die gleichen Etappen gelaufen. Ingrid und Silke, die beiden deutschen aus dem Ruhrpott habe ich bereits auf der Busfahrt von Bilbao nach Oviedo getroffen. Sie sind am gleichen Tag wie ich gestartet, aber das einzige Mal zuvor haben wir uns in Berducedo getroffen – in der Bar und nicht in der Herberge. Gabriel mit seiner Hündin Gitan, die beiden Spanier die immer so langsam und mit großer Kameraausrüstung unterwegs sind, sind mir bekannt, Francesca mit Freund (habe nie erfahren wie er heißt), Uruzu und einige andere mir nur optisch bekannte Pilger erreichten nach mir noch die Herberge, aber es kamen keine Gespräche auf. 
Für mich mischt sich das Pilgertrüppchen hier neu, aber auch das gehört zum Weg. Man trifft sich, läuft ein Stück gemeinsam, verliert sich aus den Augen um sich später eventuell wieder zu begegnen. Da der Camino Primitivo relativ kurz ist und es nicht so viele verschiedene Möglichkeiten zur Etappenplanung gibt, trifft man sich zwangsläufig wieder – im Gegensatz zu langen Wegen wie dem Camino Francés. Auf dem Francés gibt es so viele Möglichkeiten verschiedene Etappen zu laufen, innerhalb von wenigen Kilometern in verschiedenen Herbergen und Orten zu übernachten und es sind so viele Pilger unterwegs, dass man sie niemals alle kennen lernen und treffen kann. Auf einem Weg wie dem Camino Francés kommen die Truppen zusammen, dadurch dass man die gleiche Geschwindigkeit hat, die gleiche Ausdauer für das gleiche Tagespensum und irgendwann plant man oftmals gemeinsam mit seinen Mitpilgern wie weit man an nächsten Tag läuft. Hier auf dem Primitivo treffen wir uns ständig wieder, weil es schlichtweg keine anderen Etappenmöglichkeiten gibt. Wenn ich die letzten Tage zurückschaue dann hätten wir z.B. diese Möglichkeit: Übernachtung in Fonsagrada oder Padron. Die Herbergen in Fonsagrada und Padron liegen ganz genau 1,5 Kilometer auseinander. Die nächste Übernachtung ist dann aber, egal wo man am Morgen startet Cadavo Baleira oder Castroverde. Die nächste Etappe danach wäre Lugo. Einige laufen erst die 30 Kilometer bis Castroverde und dann nach Lugo, andere laufen die 23 Kilometer bis Cadavo Baleira und dann die 30 Kilometer bis Lugo. Spätestens in Lugo würde man automatisch wieder auf seine Mitpilger treffen, denn eine andere Streckenplanung ist nicht möglich. Oder doch möglich, wird aber selten gemacht. Aber ich mache es heute! Ich werde nur 8 Kilometer bis Castroverde laufen und sozusagen einen Pausentag einlegen. Da ich fest entschlossen bin heute nur die 8 Kilometer bis Castroverde zu laufen, bleibe ich beim Erwachen im Schlafsaal noch brav liegen. Was soll ich so früh aufstehen, ich werde lange vor Herbergsöffnung im nächsten Ort sein.
Die Nacht in dem Schlafsaal war sehr warm, denn frische Luft, offene Fenster und Spanier passen einfach nicht zusammen. Nachdem fast alle Mitpilger ausgeflogen sind stehe ich in aller Ruhe auf und packe meinen Rucksack. Viel zu packen gibt es nicht und Routine habe ich nach so vielen Kilometern auf verschiedenen Wegen reichlich. Abends wird der Rucksack immer so vorbereitet, dass ich nur den Schlafsack und die Crocks in das untere Fach packen muss. Die Kleidung hängt am Bettgestell, die „Kulturtasche“ zu oberst im Rucksack. Fotoapparat, Handy, Reiseführer wandern abends schon in die Gürteltasche und dann fehlen nur noch die Schuhe die im Schuhregal am Hauseingang stehen. 
Mit geschultertem Rucksack laufe ich zur Dorfbar die um 7.30 Uhr öffnet. Prinzipiell wäre es auch problemlos möglich nach 8 Kilometern im Zielort zu frühstücken – aber ich habe heute alle Zeit der Welt und nur weil ich beim Start gefrühstückt habe, heißt dass ja nicht, dass ich nicht noch in Castroverde ein zweites Frühstück zu mir nehmen kann. In der Bar sitze ich lange und gemütlich bei meinem Milchkaffee und den üblichen Toastadas und dann gehe ich los. 
Auch heute fällt mir das Laufen wieder schwer. Die Beine sind so müde, sie fühlen sich so schwer und angestrengt an. Manchmal ist es, als ob jedes Bein ein Betonklotz wäre. 
Die Wettervorhersage hatte Recht, das Wetter ist umgeschlagen, alles ist grau in grau – es sieht nach Regen aus, aber es ist trocken. 



Unabhängig vom Weg kann ich das Laufen heute nicht genießen. Meine Beine wollen einfach nicht. Zeitweilig habe ich im linken Unterschenkel ein Engegefühl, so als ob ich einen viel zu engen Strumpf trage. Wirklich Sorgen mach ich mir um das Phänomen nicht. Missempfindungen, Gefühlsstörungen, Schmerzen in den Beinen sind alles Begleiterscheinung meiner Grunderkrankung, aber es kommen in diesen Momenten immer mal wieder Gedanken ob alles in Ordnung ist. Schon vor Tagen hatte ich kurzfristig das Gefühl, dass der linke Fuß etwas schlappt, aber irgendwann habe ich es nicht mehr wahrgenommen und es verschwand wieder. Ich sage mir in diesem Moment immer, dass es ein Gruß vom Körper ist, gut auf sich aufzupassen – und das tue ich. Ich laufe heute eine Kurzetappe. 



Noch nie auf all meinen Wegen bin ich auf die Idee gekommen für 8 Kilometer zu starten. Da war früher eher die Frage: Hänge ich spontan noch 8 Kilometer an die Etappe – oder versuche ich mich in einer Doppeletappe? Was kann ich alles schaffen? Auf diesem Weg komme ich zwangsläufig an meine Grenzen, dazu reichen schon die Bergetappen und: ich möchte diesen Weg schaffen und dazu muss ich mir die Frage stellen: Wie gestalte ich den Weg, damit ich ihn schaffe? 



Bei kalten Temperaturen und neblig-feuchtem Wetter stapfe ich vor mir hin. Warum fällt mir das Laufen so schwer, warum fühle ich mich heute so unmotiviert? Bin ich so unmotiviert, weil ich meine Mitpilger verloren habe? Bin ich einfach körperlich so auf, dass mir das Laufen heute so schwer fällt? Oder bin ich nur unzufrieden mit mir selbst, geht es mir besser, wenn ich die dreißig Kilometer bis Lugo durchlaufe?
Nein, die 30 Kilometer bis Lugo wollte ich nie gehen, generell wollte ich es auf diesem Weg vermeiden Etappen von 30 Kilometern zu laufen und bisher habe ich mich daran gehalten. 30 Kilometer auf der Via Plata oder auf dem Francés sind schnell gelaufen, aber hier auf den Bergetappen braucht man oftmals für 20 Kilometer länger, als für 30 Kilometer in der Ebene. 
Vielleicht ist meine Motivation heute im Keller, weil ich das geschafft habe, was ich immer schaffen wollte, was mich auf den Weg gelockt hat: die Bergetappen! Mein Ziel war es mich auf den Weg zu machen und die Bergetappen zu schaffen – und diese habe ich geschafft und zwar wesentlich besser als gedacht. Vielleicht ist es auch nur die Müdigkeit, die Erschöpfung und die Fußschmerzen, die mich heute an einem zügigen Tempo hindern – aber ich habe Zeit.



Über Pisten die durch Wälder führen geht es auf und ab. Aussicht, Panorama oder ähnliches gibt es heute nicht. Ich kann nur wenige Meter sehen, der Rest liegt hinter den Nebelschwaden. Zeitweilig fängt es leicht an zu regnen, aber nach wenigen Minuten ist es wieder trocken – es lohnt nicht dafür die Regenkleidung auszupacken.



Nach sechs Kilometern erreiche ich ein kleines Dorf mit einer leicht überdimensionalen Kirche. Auf den bislang gelaufenen Kilometern habe ich keine geöffnete Kirche gefunden, Pilgermessen gibt es hier auch nicht, aber meist waren die Kapellen am Wegesrand winzig klein und zerfallen – und hier steht in einem winzigen Dorf eine riesige Kirche. Da die Kirche geschlossen ist, schaue ich mir sie von außen an, dann geht es weiter. 




Nur noch zwei Kilometer bis zum Tagesziel, es ist noch nicht einmal 10 Uhr am Vormittag. Vor einem Haus sitzt eine schwarze Katze und ich kann es nicht verhindern: Ich muss an meine beiden Katzen denken. Wie geht es ihnen in der Pension? Vermissen sie mich, nehmen sie mir die Auszeit übel? Um Ylvie mache ich mir wenig Sorgen, sie ist zutraulich, verschmust, lustig und strahlt nach wie vor ein Urvertrauen aus – sie hat keine Ängste. Tommi hingegen ist ein absolutes Sensibelchen. Wenn wir drei in unserer Wohnung sind, glaubt man nicht, dass Tommi so ein Sensibelchen ist. Er ist verschmust, lustig und absolut auf mich fixiert. Sieht oder hört er eine fremde Stimme, dann ist er weg. Würde ich nicht erwähnen, dass ich zwei Katzen habe – niemand würde es glauben, denn niemand hat Tommi jemals gesehen. Sobald es an der Tür schellt ist er weg und kommt nicht mehr raus, bis der Besuch die Wohnung verlassen hat, derweil Ylvie die pure Lebensfreude ist und von jedem gekrault und bespielt werden möchte. Ich werde nachher in der Katzenpension anrufen und mal fragen wie es ihnen geht, vielleicht schickt man mir auch ein Foto.





Kurze Zeit später erreiche ich die Herberge von Castroverde. Natürlich ist die Herberge geschlossen, aber damit habe ich gerechnet. Laut Aushang öffnet die Albergue um 13 Uhr. Derweil ich mir die Aushänge durchlese erreicht, wie es sich im Nachhinein herausstellt, die Hospitaliera die Herberge. Sie sieht mich, sagt nichts, geht hinein und beginnt mit dem Reinemachen. Ich lasse meinen Rucksack vor der Tür stehen, nehme meine Handtasche heraus und gehe in´s Dorf. Castroverde ist etwas größer als einige andere Dörfer, hat sogar einige Lädchen. Bei einem Bäcker setze ich mich in die Gaststube, bestelle mir einen Kaffee, ziehe meine Schuhe aus, lege die Beine hoch und schaue in den Regen raus. In der Bar frage ich nach Wifi und wenig später bekomme ich den Code. Auf dem Weg habe ich mein Handy nie an, aber inzwischen gehört es in jeder Bar dazu nach Wifi zu fragen. So kann ich meinen Liebsten daheim einen Gruß zukommen lassen und ich melde mich kurz per whatsapp bei meinen Freunden und erhalte auch einige Nachrichten. 


Besonders an meinen Pilgerfreundin Klaudia denke ich auf diesem Weg häufig, denn Klaudia hat mir den Mut gemacht, meinen Traum in die Tat umzusetzen. Inzwischen bin ich froh, dass sie mich motiviert hat und dankbar, dass wir nicht gemeinsam gestartet sind, denn alleine auf dem Weg ist man unabhängig und frei. 
Wie würde ich reagieren, wenn ich mein Ziel nicht erreiche, weil meine Mitpilgerin nicht kann. Würde ich meine Ziele aufgeben, wären wir nur gemeinsam gestartet und dann jeder seinen Weg gegangen, hätte ich mich ihrem Lauftempo angepasst? Fragen über Fragen, die ich mir aber nur theoretisch stellen muss. Klaudia wird von mir täglich über die Neuigkeiten, nicht vorhandene Bars, schwierige Steigungen und ggf. Alternativen usw. informiert. In zwei Wochen wird sie auf den Primitivo starten und sie verfolgt meinen Weg gespannt mit. In der Bar sitze ich lange Zeit, aber es stört niemanden. Nachdem ich einen langen Regenschauer ausgesessen habe, laufe ich durch das Dorf und stoße auf ein relativ großes Schuhgeschäft. In dem Schuhgeschäft sieht es relativ chaotisch aus, es herrscht ein wildes Durcheinander, aber ich betrete es. Im Schaufenster sind relativ gut aussehende Wanderschuhe zu sehen und auch wenn ich superteure, gute Markenwanderschuhe habe – die Füße tun mir täglich unheimlich weh in diesen Schuhen. Inzwischen bin ich zur Erkenntnis gekommen, dass nicht meine Füße das Problem sind: es sind die Schuhe. Ich probiere mehrere Wanderschuhe an und die Verkäuferin kann mir nur bei jedem Paar berichten, dass sie „very comfortable“ sind. Da sie nur „very comfortable“ Schuhe hat, entscheide ich mich für das scheinbar bequemste Paar. Gewiss ist es ein Risiko sich spontan neue Wanderschuhe zu kaufen (auch wenn ich täglich starke Fußschmerzen in meinen Schuhen habe: ich bin blasenfrei!), aber angenehm ist es nicht täglich Schmerzen zu haben. Der Weg verlangt mir soviel ab und es ist ein spontaner Versuch schmerzfrei unterwegs zu sein. Meine teuren Hanwag lasse ich im Schuhgeschäft zurück. Sowohl auf dem Camino del Norte, daheim im Teutoburger Wald als auch hier auf dem Primitivo bin ich in diesen Schuhen noch nie schmerzfrei gelaufen. Zwei, drei oder vier Kilometer, spätestens dann ist es aus mit der Schmerzfreiheit. Mit einem guten Gefühl laufe ich zur Herberge zurück, denn es ist fast 13 Uhr und die Herberge dürfte jeden Moment öffnen. 


Als ich an der Herberge ankomme, kommen gerade noch einige Pilger aus Cadavo-Baleira an. Ich bin scheinbar doch nicht die Einzige, die eine Kurzetappe gelaufen ist. Leider ist die Hospitaliera nicht gewillt uns einzulassen. Sie erzählt uns, dass wir, die wir heute nur 8 Kilometer gelaufen sind, uns ein Hotel nehmen müssten, da die Betten für die 30 Kilometerpilger aus Fonsagrada und Padron reserviert sind. Francesca hat ein dringendes Bedürfnis, aber sie darf nicht einmal für einen Klogang die Herberge betreten. Hätte ich vor drei Stunden, als die Hospitaliera mich vor der Herberge ankommen sah, erfahren, dass ich hier unerwünscht bin, wäre ich weiter gelaufen – auch wenn ich gegen eine 30-Kilometer-Etappe war, und nach wie vor bin. Aber sie hat nichts gesagt, wir uns begegnet sind. Es widerspricht der Gastfreundschaft der Pilgerherbergen. Alle, die eine Credencial haben sind willkommen und die Betten werden in der Reihenfolge vergeben, wie man eintrifft – egal wo man morgens gestartet sind. Die Hospitaliera telefoniert mit irgendwelchen Vorgesetzten und den Herbergen in Fonsagrada/Padron und erzählt noch einmal, dass die Herbergen dort voll sind und wir in ein Hotel müssen. Francesca und Freund verlasen die Herberge um sich ein Hotel zu suchen. Gabriel bleibt mit seinem Hund im Regen auf der überdachten Terrasse sitzen, denn falls es abends noch ein freies Bett gibt, darf er noch einmal fragen (auch wenn der Hund draußen schlafen muss). Ich bin nicht bereit aufzugeben. Noch nie im Leben habe ich meinen Schwerbehindertenausweis für etwas genutzt (außer dem ermäßigten Eintritt im Schwimmbad), aber heute bin ich zum Kampf bereit. Ich packe den Schwerbehindertenausweis aus, gebe ihr die spanische Übersetzung dazu und werde angeguckt wie ein Autobus. Die Hospitaliera traut meinem Ausweis nicht, fühlt sich überrumpelt und scheint noch ärgerlicher als zuvor, aber widerwillig greift sie zum Telefonhörer um mit irgendwem über mich zu reden. Schlussendlich bekomme ich das, was ich möchte: ein Bett. Froh bin ich nicht nachgegeben zu haben und mir ist es egal was die Herbergsdame von mir denkt. Sie knallt mir die Einmalbettwäsche auf den Tresen und ich darf die Herberge betreten. Die Herberge ist fast neu und wunderschön, aber viele kleine, alte und heruntergekommene Herbergen mit netten, engagierten Herbergsbetreuern haben mehr Atmosphäre. Ich lege mich auf mein Bett – direkt am geöffneten Fenster – und erhole mich. Die Ruhe tut gut, das Mittagsschläfchen ebenfalls. Abends sitzt Gabriel nach wie vor im Regen auf der Terrasse der Herberge. Wir sind zu fünft und noch immer lässt ihn die Hospitaliera nicht herein. So ein Quatsch. Es ist bald 19 Uhr, wer soll denn jetzt noch kommen bei dem Sauwetter. Ich gehe nach draußen zu Gabriel und erzähle ihm, dass es noch 35 freie Betten gibt. Und siehe da: plötzlich wird auch ihm ein Bett gewährt. Es ist ein ruhiger Abend, zu sechst nutzen wir den Raum für 40 Pilger. Wo bitte war denn nun das Problem des heutigen Tages? 
Es gab kein Problem. Ich freue mich über den ruhigen Tag und freue mich darüber, dass ich mich nicht habe abwimmeln lassen. 

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