Die Geschichte meines Jakobsweges:
Camino Francés: (Pamplona – Santiago de Compostela): Mai 2008 --- geschrieben Oktober 2010

Via de la Plata (Sevilla – Salamanca): April/Mai 2010 --- geschrieben Dezember 2010

Via de la Plata (Salamanca – Santiago – Muxia): April/Mai 2011 --- geschrieben Mai/Juni 2011

Camino del Norte: (Hondarribia – Gurriezo): Juni 2012 --- geschrieben Juli 2012

Camino Primitivo (Oviedo - Santiago de Compostela): Mai 2014 --- geschrieben Mai bis September 2014

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Fonsagrada/Padron - Cadavo-Baleira



18. Mai 2014
Fonsagradada/Padron – Cadavo-Baleira


Auch das heutige Etappenziel ist erreicht und ich hinterlasse einen Gruß aus Cadavo-Baleira. Bis zur Ankunft habe ich mit mir selbst gehadert, wie weit ich heute gehen möchte oder kann.

Eigentlich war mir schon beim Aufbruch in den Tag bewusst, dass ich heute bis Cadavo-Baleira laufe und nicht weiter. Oder vielleicht doch? Alle meine Mitpilger die mir an´s Herz gewachsen sind laufen heute die fast 31 Kilometer bis Castroverde – nur ich nicht. Aber tut es mir gut nur wegen meiner Mitpilger mich selbst zu vernachlässigen? Ich bin erschöpft, ausgelaugt und müde und ich habe mir immer geschworen auf mich aufzupassen und dass heißt mir gegenüber ehrlich zu sein und mir einzugestehen, dass ich einen Pausentag, eine Kurzdistanz oder einige Buskilometer brauche. Auch wenn ich durch die heutige Etappe meine Mitpilger verliere: es ist die richtige Entscheidung. Dass das Wetter ab morgen schlechter werden wird, kann ich nicht beeinflussen, wohl aber meine Gesundheit. Und so lasse ich morgens nach dem Erwachen meine Mitpilger ziehen. 


Schon sehr früh geht es heute an´s Tageswerk. Nach wie vor verstehe ich das Phänomen nicht, auch wenn es mir sehr gut bekannt ist. Um 5.20 Uhr springen zwei meiner Zimmerbewohner auf und fangen laut und aktiv an im Rucksack zu kramen und alles vorzubereiten. In dem kleinen Durchgangszimmer vor unserem Raum herrscht ebenfalls reges Treiben und ich bleibe entspannt liegen und „schaue“ brillenlos zu wie alle überhastet die Herberge – oder mindeststens den Schlafraum – verlassen. Draußen ist es noch dunkel, aber die Dämmerung ist schon zu erahnen. Nachdem ich alleine im Zimmer übergeblieben bin, und meine niederländischen Mitpilger sich erkundigt haben ob es mir gut geht (ich liege noch) bevor sie gehen, ziehe ich die Jalousien hoch, reiße das Fenster auf und genieße noch etwas die Ruhe. Auch ich stehe irgendwann auf und schnell bin ich startklar. Im Aufenthaltsraum der Herberge sitzen noch einige weitere „Langschläfer“ (ausgeschlafen bis 6.15 Uhr) und heißen ruhig den Tag willkommen. Da die Herberge außerhalb der Stadt oder eines Dorfes liegt beginne ich den Tag mit einem ekelig süßen, wenig schmackhaften Automatenkaffee. Dazu gibt es den noch vorhandenen Joghurt vom Vortag, danach geht es los. Durch Wiesen- und Waldwege geht es nach kurzer Zeit wieder aufwärts – alles andere wäre auch verwunderlich gewesen  - und es wird wieder ein wunderschöner Sonnentag werden. Auf kleinen Wegen die schnell wieder vom Dorf wegführen geht es auf und ab.



Als ich mich umdrehe sehe ich eine wundervoll friedliche Landschaft aus grünen Tälern mit weißen Wolken vor blauem Himmel. Ich bin total fasziniert, ständig bleibe ich stehen und ich freue mich an der digitalen Fotografie. Früher, als man noch mit einem Film mit 24 Fotos unterwegs war, hätte man oft überlegt, abdrücken oder nicht, besser hier – oder dort drüben, lohnt sich das und noch ein Foto? Die zusätzlichen Bilder auf der Speicherkarte wiegen nichts und so genieße ich die Ausblicke, nicht ohne diese auf Foto zu bannen. 




Ich weiß, dass das Erlebte und Gesehene tief in mir drin ist, dass mir diese Wege niemand nehmen kann. Sie sind ein Teil von mir, tief in meinem Herzen verewigt. Wenn man nicht selbst auf dem Camino unterwegs war, kann man nicht verstehen, was es mit dieser „Beziehung“ zu tun hat und ich verlange auch von niemandem, dass er dass was mit mir unterwegs passiert, versteht – aber nach wie vor ist es, trotz aller Anstrengung, oder vielleicht auch gerade wegen der Anstrengung, das Beste was ich je getan habe. Man kann so viel mehr als man denkt, man muss nur den Mut haben es zu wagen und man kommt so viel weiter, als man glaubt und man lernt so viel über sich selbst. Inzwischen liegt schon über die Hälfte des Weges hinter mir, die heftigsten Etappen und Steigungen sind geschafft und wenn ich ehrlich bin: ich habe nicht damit gerechnet es bis hierher zu schaffen. Jetzt, wo ich es schon so weit geschafft habe, werde ich auch den Rest noch schaffen. 


Worüber man nicht alles nachdenkt und philosophiert, wenn man einsam und alleine unterwegs ist… 
Auch wenn ich es in meinem Reiseführer nicht gelesen habe – oder doch und ich habe es vergessen – der Windpark auf dem Berg zeigt mir den Weg. Der Tag ist so schön und auch wenn es kontinuierlich aufwärts geht, laufe ich beschwingt den Berg hinauf. 



Nach wie vor habe ich jeden Tag Schmerzen in den Zehen und im Vorfuß, es ist nicht schön, aber scheinbar gehören diese Beschwerden zu meinem Weg dazu. Bislang habe ich mich nicht von diesen heftigen, manchmal wie Stromstößen in die Zehen schießenden Schmerzen aufhalten lassen und werde es auch weiterhin nicht tun, auch wenn es angenehmer wäre schmerzfrei zu laufen. Der Waldweg geht in eine Piste über und diese führt geradewegs hinauf zum zerfallenen Dorf Montetuto. Im Schatten, auf einer alten Hausmauer sitzend, pausiere ich für kurze Zeit. Dabei werden – wie schon so häufig – die Schuhe ausgezogen. Lange bleibe ich nicht sitzen, aber zehn Minuten ohne Schuhe tun Wunder und danach kann ich erst einmal wieder eine kurze Strecke schmerzfrei laufen.



Da die Sonne mal wieder strahlend vom Himmel lacht, wird die Pause für eine neue Sonnencremeschicht, genutzt. Unser spanischer Polizist Alberto sieht mich im Schatten sitzen, fragt nach meinem Wohlergehen, und zieht weiter. Es ist schön, dass sich jeder immer um jeden kümmert. Ein kurzer Wortwechsel, einmal vergewissern, dass alles im Lot ist, um dann gut gelaunt den Weg fortzusetzen. Auch wenn wir fast alle allein auf den Weg gestartet sind, wir sind nicht alleine. Wir sind eine kleine, zusammengehörende Pilgerschar, die sich gegenseitig in aller Unteschiedlichkeit respektiert, ernst nimmt und auf die Sorgen und Nöte der Anderen eingeht. Hinter dem Ruinendorf Montetuto geht es in den Wald hinein und nun auf den typisch, unebenen Waldwegen abwärts. 




Die Wege sind schmal, übersät mit Steinen, Wurzeln, Kiefernzapfen, Blättern und was so alles auf einen Waldweg gehört. Der irische Tom, der mit mir in Doriga übernachtet hat, sprintet den Weg abwärts an mir vorbei. Ich habe ihn gestern nicht getroffen, er muss in Fonsagrada übernachtet haben, aber in dem Tempo komme ich den Waldweg nicht hinunter. Einerseits die in den Fuß schießenden Schmerzen, andererseits das doch etwas marode Gleichgewicht und die inzwischen täglich müden Beine. Tom verschwindet vor mir hinter einer Kurve, aber ich weiß, dass ich ihn bald wieder sehen werde – und so ist es auch. Die längst erwartete Bar, liegt kurz vor bevor der Waldweg die Straße erreicht, am Waldrand und wie immer bin ich nicht alleine. Im Schatten und unter den Sonnenschirm sitzen meine gut gelaunten Mitpilger, frühstücken bereits oder warten auf das Frühstück. Nach 10 Kilometern auf und ab, freut sich jeder auf sein Frühstück. Der Wirt springt zwischen seinen Gästen hin und her, das Frühstück lässt auf sich warten, aber als es endlich kommt, sind die Brote riesig. Inzwischen bin ich seit über einer Woche unterwegs, aber das heutige Baguette übertrifft alle vorherigen in der Größe. Auch wenn es unmöglich ist, dieses gut belegte, riesige Baguette in einem zu verzehren, fange ich an. Alle kauen genüsslich die Brote, dazu Kaffee, oder Wasser. Der Wirt wird nicht wissen, oder wahrscheinlich doch, was er den Pilgern täglich Gutes tut. 



Ich kann mir kaum vorstellen, dass außerhalb der Pilgersaison hier noch jemand vorbei kommt. Da ich beim besten Willen das Riesenbocadillo nicht aufessen kann, lasse ich mir meine Reste einpacken und dann geht es weiter. Kurz hinter der Bar erreicht der Waldweg eine Straße und siehe da: Dort gibt es eine weitere Bar, die zwar geöffnet ist, aber in der niemand sitzt, denn alle haben die erste Möglichkeit zum Frühstück genutzt – und am Waldrand zu sitzen ist wesentlich angenehmer, als auf dem Fußweg einer Straße zu essen. Ich biege auf der Straße, wo wie es die Ausschilderung angibt nach rechts ab, folge der kleinen Straße eine kurze Weile, dann entfernt sich der Weg wieder von der Straße. Über einen kleinen Pfad schlängelt sich der Weg wieder den Hang hinauf um oberhalb der Straße, parallel zu ihr verlaufend, weiter zu führen. Die Straße ist wenig befahren, zeitweise durch die Bäume zu sehen, aber kaum wahrzunehmen. In dem winddichten, grünen Dickicht ist es sehr warm, die Mittagssonne strahlt vom blauen Himmel. 




In der Ferne kann ich die Windräder sehen, sie werden schon wieder klein – ich komme gut vorwärts. Auch wenn mir inzwischen die heutigen Kilometer wieder in den Knochen sitzen, es ist einfach nur wunderschön, grün, ruhig und friedlich. In dieser Atmosphäre kann ich trotz der körperlichen Anstrengung richtig entspannen und durchatmen. 



Es ist so wie ich es einmal in einem Bericht gesehen habe: Die Seele atmen lassen. Auf dem Weg fühlt man sich so frei und leicht, die Gedanken schweifen oder man denkt gar nichts. Ich bin einfach glücklich. Inzwischen führt der Weg durch ein wunderschönes Tal, aber es geht merklich aufwärts. Laut Reiseführer soll diese Passage 850 Meter lang sein, aber sie scheint kein Ende zu nehmen. Der Weg ist unheimlich steil und auch die flotte Russin Anastasja scheint mit diesem Abschnitt zu kämpfen. In den wenigen Schattenmetern bleibe ich stehen, ruhe mich aus, lasse das Herz etwas runterfahren, dann geht es in den nächsten sonnigen Abschnitt, bis ich im Schatten wieder stehen bleibe. Sonne, laufen, Schatten, kurze Pause. So geht es Schritt für Schritt und Meter für Meter vorwärts. 



Irgendwann höre ich ein Auto oberhalb von mir auf einer Straße fahren und selten bin ich froh, ein Auto zu hören. Auch dieser steile Anstieg wird in Kürze ein Ende haben. Und so ist es auch. Anastasja sitzt auf der Leitplanke im Schatten und auch ich treffe kurze Zeit später ein. Anastasja treffe ich seit Tagen, aber aufgrund der Sprachbarriere unterhalten wir uns nur kurz und selten. Aber beide freuen wir uns diesen Abschnitt geschafft zu haben. Über die Straße erreiche ich bald wieder ein kleines Dorf und laufe erfreut auf ein Haus zu, in dem eine Bar zu sein scheint. Mein Wasser ist bei dem steilen Anstieg fast gänzlich ausgetrunken und ich habe riesigen Durst und ohne Wasser auf dem Weg zu sein ist absolut unvernünftig. 


Entsetzt stelle ich fest, dass die Bar geschlossen ist. Was mache ich denn nun? Ich bin so durstig und ausgedörrt, habe nichts mehr zu trinken und bis zum nächsten Dorf (angeblich gibt es dort eine Bar) sind es noch ca. drei Kilometer. Einfach weiterlaufen bei der Hitze? Einige Meter abseits von der Straße sehe ich einen älteren Mann im Garten arbeiten und kurz entschlossen gehe ich auf ihn zu und schildere mein „Problem“. Der Mann lacht mich an, zeigt auf den Wasserhahn und fordert mich auf mich zu bedienen. Den Wasserhahn und den Gartenschlauch habe ich bereits gesehen, aber der Schlauch liegt einfach so im Dreck und bei dem Gedanken an die vielen Keime weiß ich nicht, ob ich das Wasser trinken möchte. Ich komme zu dem Entschluss, dass es besser ist Wasser dabei zu haben, auch wenn mir bei dem Gedanken nicht ganz wohl ist. Ich lasse das Wasser eine Weile laufen, putze die Tülle vom Schlauch gründlich ab, fülle meine Flaschen und bedanke mich höflich. Da der Weg hinter diesem Haus wieder hinauf führt, bin ich froh, dass Wasser zu haben. Es sieht klar aus, schmeckt lecker und ich hoffe darauf, dass der Schlauch halbwegs sauber war. 


Auf meinem allerersten Camino habe ich mir einen heftigen Magen-Darm-Infekt zugezogen, den ich immer auf schmutziges Leitungswasser geschoben habe – aber ob es daran lag, wer weiß dass schon genau?! Seitdem bin ich vorsichtig geworden, trinke kein Brunnenwasser mehr, aber jetzt benötige ich dringend Wasser. Wie angekündigt stoße ich nach 2-3 Kilometern auf eine Bar und pausiere dort um Energie für die letzten Kilometer zu tanken. Als erstes kaufe ich mir eine 1,5 Literflasche Wasser, dann setze ich mir in den Schatten nach draußen. Das zuvor abgezapfte Wasser kippe ich in die Blumen – sicher ist sicher. 
Die Landstraße geht in eine Piste über der ich über mehrere Kilometer folge. 



Es sind keine großen Steigungen mehr zu bewältigen und ich weiß, ich bin bald am Tagesziel. Ich lasse mir Zeit, schlendere durch Ginster und Heidewege bis zu einem Abstieg. 



Unter mir kann ich ein Dorf liegen sehen – Cadavo-Baleira, mein Tagesziel. Der letzte Abstieg in´s Dorf ist noch einmal sehr steil und ich bin froh anzukommen. Die Herberge liegt aus dieser Richtung kommend, direkt am Dorfanfang und ich stelle fest, dass ich die erste Pilgerin des Tages bin.


Ich bin alleine, in einer großen Unterkunft. Die Hospitaliera wirkt nicht sehr sympathisch und schimpft vor sich hin, dass alle nach Castroverde laufen und niemand bei ihr übernachten möchte. Ich kann es auch nicht ändern, denn ich möchte auf jeden Fall dort übernachten – auch wenn ich alleine bleiben sollte. Ich freue mich schon auf eine ganz ruhige Nacht und einen schönen Spätnachmittagsschlaf, aber alleine bleibe ich dann doch nicht. Nach der üblichen Dusche und dem Wäschewaschen laufe ich die wenigen Schritte in´s Dorf auf der Suche nach einem Menue. Mir ist es lieber spät am Nachmittag zu Mittag zu essen (so wie in Spanien üblich), als abends um 21 Uhr kurz vor Herbergsschließung in aller Eile essen zu müssen. Im Speiseraum der Bar bin ich nicht alleine, aber ich bin die einzige die bleibt. Zwei Pilger essen noch ihr Menue, bevor sie nach Castroverde aufbrechen. Ich sitze lange Zeit gemütlich mit der üblichen Reiselektüre am Mittagstisch, schicke meinen Liebsten ein Lebenszeichen und bin froh, heute keinen Schritt mehr weiter laufen zu müssen. Zurück in der Herberge stelle ich fest, dass ich nicht mehr alleine bin und der Abend klingt ruhig und entspannt aus. Auch wenn es mir widerstrebt: Morgen werde ich eine Kurzetappe mit nur 8 Kilometern laufen. Mein Körper benötigt dringend etwas Ruhe und Erholung und ich habe noch ganz viel Zeit bevor mein Flieger in Santiago abhebt. Ich liege gut in der Zeit – viel besser als gedacht und ich freue mich, dass trotz aller Anstrengung alles so problemlos klappt.

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