Deba – Cernarruza
Die Nacht in der schimmeligen Schule von Deba war wesentlich
besser als gedacht. So müde und kaputt wie ich vom Vortag war habe ich bestens
geschlafen. Nichts, absolut gar nichts, habe ich von meinen Mitpilgern gehört,
dabei habe ich nicht einmal Ohropax benutzt. Als ich erwache dämmert es bereits
und so bleibe ich noch ruhig in meinem Bett liegen und warte, dass es zur
allgemeinen Aufbruchsstimmung kommt. Ich möchte nicht diejenige sein, die alle
aufweckt. So gegen 6 Uhr tritt im Allgemeinen die Aufwach- und Aufstehphase
ein.
Als die erste Unruhe einsetzt stehe ich auf und bereite mich
für den neuen Tag auf. Heute stehen ca. 24 Kilometer von Deba nach Markina
Xemein auf dem Plan. Mit den praktischen Aufzügen, die die Höhenmeter der am Hang gelegenen Stadt überwinden, fahre ich abwärts und suche den Weg aus der Stadt heraus. Zuvor statte ich einer Bäckerei einen Besuch ab, die in den Unterlagen der Touristeninformation mit früher Öffnungszeit versehen war. Ich bin nicht die einzige Person die morgens um 7 Uhr schon in der Bar sitzt und frühstückt. Nach den üblichen Toastadas und einer Tasse Kaffee starte ich.
Ich umrunde den Strand und überquere den Meeresarm auf einer Brücke,
folge kurz der Straße und dann biegt der Weg nach links in den Berg ab. Tapfer quäle ich mich den Berg hinauf, aber heute ist definitiv nicht mein Tag. Die Beine fühlen sich so müde an, ich bin – trotz des guten Schlafes – kaputt bis zum geht nicht mehr und jeder Schritt ist eine Qual. Direkt dort wo der Weg die Straße verlässt geht es mehr als steil den Berg hinauf. Ich strauchele und balanciere aufwärts, stolpere, falle hin, raffe mich auf und weiter vor mich hin zu stolpern. Diese Situation hatte ich auch schon bei mehreren meiner „Trainingsrunden“ im Teutoburger Wald. Es gibt Tage, da habe ich das Gefühl das meine Beine einfach nicht können oder wollen. Schritt für Schritt geht es langsam aufwärts und schon nach relativ kurzer Zeit kann ich das tief unter mir gelegene Deba sehen.
An einer Stelle habe ich einen schönen Blick auf einen Hof etwas über mir. Es liegt dort in grünen Wiesen, als ob ich in den Alpen bin. Ich bin erst seit ca. einer ¾ Stunde unterwegs, aber ich bin total fertig.
Plötzlich entscheide ich mich dafür, mich für heute nicht weiter zu quälen. Ich weiß, dass ich die ca. 24 Kilometer in diesem Laufstil niemals durchhalten werde. Schon gestern habe ich meine Grenzen mehr als deutlich gespürt und vor jeder Pilgerwanderung habe ich mir gesagt: Die Gesundheit steht an erster Stelle! So schwer es mir sonst immer gefallen ist, wirklich auf mein Bauchgefühl zu hören, so leicht fällt es mir heute. Ich drehe auf dem schmalen Holperweg um und balanciere in´s Tal zurück. So beschwerlich wie der Aufstieg bis hierher war, so beschwerlich ist der Abstieg.
Das Absteigen fällt mir beinahe noch schwerer als das Hinauflaufen. Mit meinen Wanderstöcken suche ich nach Halt und steige langsam hinterher. Irgendwo beim Abstieg, der ebenso lange dauert wie der Aufstieg, treffe ich auf einen Einheimischen der mich wieder den Berg hinaufschicken will. Er versteht nicht, dass ich in die falsche Richtung laufe und versucht mir mehrfach zu erklären, dass ich den Berg hinauf muss. Ich bedanke mich für seine Bemühungen und laufe weiter bergab – Richtung Deba, woher ich gekommen bin. Kurz bevor ich Deba erreiche treffe ich Luna, die nette Dänin. Wie quatschen kurz, dann verabschieden wir uns. Wahrscheinlich treffen wir uns heute Abend in Markina Xemein. Kurze nachdem ich Luna getroffen habe, treffe ich noch unsere „Los Italianos“, Diego und Eliot. Sie verstehen nicht, warum ich wieder nach Deba hinab gestiegen bin, nachdem ich schon so weit aufgestiegen war. Kopfschüttelnd ziehen sie von dannen. In Deba setzte ich mich erschöpft auf eine Mauer am Busbahnhof und überdenke meine Situation. Wie geht es weite, was mache ich nun? In der Sonne sitzend blättere ich in meinem Reiseführer, lese einige Etappenbeschreibungen und dann entscheide ich mich dazu in meinem Zeitplan zu bleiben und heute einfach mit dem Bus nach Markina zu fahren. Am Busbahnhof erkundige ich mich nach den Abfahrtszeiten und stelle fest, dass ich noch über 1,5 Stunden bis zur Abfahrt des Busses habe. Da ich wirklich gerne Kaffee trinke und es so früh in diesem Ort nichts zu tun gibt, setzte ich mich wieder in ein Café und überbrücke die Zeit so. Anschließend setzte ich mich am Busbahnhof, der direkt am Hafen liegt, in die Sonne und warte ab. Kurze Zeit später kommen zwei Pilgerinnen auf mich zu, die ich gestern erstmals in der Herberge von Deba gesehen habe. Ein junges, blondes Mädchen stellt sich als Janina aus Deutschland vor. Sie ist auf der Suche nach sich selbst, danach, was sie nach einer abgebrochenen Ausbildung und einem abgebrochenem Studium mit ihrem Leben anfangen soll. Die andere Pilgerin stellt sich als Tatjana aus der Slowakei vor. Tatjana spricht sehr gut deutsch und so können wir uns gut unterhalten. Die Wartezeit bis der Bus abfährt vergeht schnell. Ich habe das Gefühl, dass die Beiden sehr froh sind, jemanden in der Nähe zu haben, der es sich zutraut in einem fremden Land, in einer fremden Sprache mit Händen und Füßen zu kommunizieren. Der Bus fährt immer den Berg hinauf, am Meer entlang bis zur ersten Stadt. In Mutriuku müssen wie umsteigen, aber zuvor rammt unser Busfahrer noch einen anderen Bus – zum Glück gibt es nur Blechschaden am Kotflügel und am Seitenspiegel. Tatjana und Janina stehen verloren an der Bushaltestelle und wissen nicht wie und wo es weitergeht, scheinen aber auch keinen Mut zu haben, zu fragen. Kurz entschlossen frage ich an einem weiteren Bus der bereit steht, wo und wann der Bus nach Markina Xemein fährt, und ich erfahre, dass wir direkt einsteigen können und wenig später geht es nach Markina Xemein. Mariina liegt etwas im Hinterland, aber mit dem Bus erreiche ich Markina schnell und problemlos. Zu Fuß wäre ich frühestens gegen 15, 16 Uhr angekommen und nun ist es gerade mal 10 Uhr am Vormittag. Was nun, wie geht es weiter? Ich setze mich in einer Grünanlage auf eine Bank in die Sonne und packe mal wieder meinen Reiseführer aus. Die Herberge in Markina öffnet erst am Nachmittag und irgendwie habe ich ein schlechtes Gewissen auf der Bank sitzend die Öffnungszeit abzuwarten. Ich möchte mein Bett gewissermaßen auch verdient haben. Aus meinem Pilgerführer erfahre ich, dass es bis zur nächsten Herberge ca. 7-8 Kilometer sind, und das Höhenprofil sieht nicht beängstigend aus. Trotz der allgemeinen Schwäche und der Müdigkeit vom frühen Morgen entscheide ich mich dazu, mich auf den Weg nach Cernarruza zu machen. Cernarruza besteht aus einem alten Kloster und einem Hotel, mehr gibt es dort nicht. Kurzfristig mache ich mir Gedanken, ob ich eines der 9 Betten in der Herberge bekomme, oder ob die wenigen Betten eventuell schon belegt sein könnten. Aber alle die frühzeitig in Markina gestartet sind, werden an Cernarruza vorbeilaufen und die Pilger die aus Deba kommen und an Markina vorbeilaufen, können um diese frühe Zeit noch nicht da sein. So raffe ich mich auf und folge den gelben Wegweisern die mich an der Nationalstraße aus Markina herausführen. Erst geht es einige Zeit lang auf dem Seitenstreifen der Straße lang, dann biegt der Weg an einen kleinen, munter dahinplätschernden Fluss ab.
Dem Flussverlauf folge ich, erst auf betonierten Wegen, dann auf einem matschigen, kleinen Weg. Der Weg führt lange Zeit am Fluss entlang, bleibt aber immer in der Ebene, Höhendifferenzen gibt es hier momentan noch nicht.
An einer kleinen Brücke am Fluss gibt es zwei verschiedene
Wegweiser. Einer führt nach rechts auf einen Waldweg, ein Wegweiser nach links
führt zur Straße. Was nun, welcher Weg ist der richtige? Auch wenn ich vorher
niemanden getroffen habe, so kommt plötzlich aus dem Nirgendwo ein
Einheimischer auf mich zu und schickt mich nach rechts auf den Waldweg. Es ist
immer das Gleiche auf dem Jakobsweg: Wenn man einmal nicht weiter weiß und
stundenlang niemanden gesehen hat, kommt plötzlich irgendwer und hilft weiter
und weiß Rat. Am Rande eines Waldes laufe ich nun immer sachte aufwärts, das
Laufen fühlt sich für mich anstrengend an, aber bei dieser sachten Steigung ist
es gut möglich. Fersen und Zehen tun wie jeden Tag weh, auch wird der linke Fuß
zwischenzeitlich mal taub, aber das scheint hier auf diesem Weg für mich normal
zu werden. Jeden Tag das Gleiche…
Der Weg am Waldrand führt auf eine kleine Siedlung zu und
vor der einzigen Bar des Dörfchens treffe ich einige Pilger. Es ist heiß und
die Sonne knallt vom Himmel und so kommt die Möglichkeit einer Erfrischung
genau zum richtigen Zeitpunkt. Ein junger Ire, den ich zuvor noch nicht
getroffen habe, steht auf um mir seinen Stuhl anzubieten, aber ich lehne
dankend ab. Es ist nicht so, dass ich keinen Kontakt möchte, aber ich möchte
definitiv nicht in der knalligen Sonne sitzen. Es ist mir einfach zu heiß. Die
Tische stehen direkt an der Hausecke und hinter der Hausecke isst eine lange
steinerne Mauer im Schatten. Mit meinem kalten Wasser setze ich mich auf die
Mauer in den Schatten und meine Mitpilger kommen kurze Zeit später auch mit
ihren Stühlen in den Schatten.
Wie kommen sehr nett in´s Gespräch und der Ire
bietet mir an, ihn heute noch bis Gernika zu begleiten. Auch wenn es zu nett
wäre in Gesellschaft zu laufen, so verrückt wäre es nach dem Tagesbeginn heute
noch die 18 Kilometer bis Gernika zu absolvieren. Morgens bin ich bestimmt von
Deba ca. 4 Kilometer den Berg hochgeklettert und zurückgelaufen, jetzt die 7
Kilometer bis Cernarruza und dann noch 18 Kilometer bis Gernika, da käme ich
auf über 30 Kilometer. Von Cernarruza aus wird das Gelände wieder schwierig und
steil – nein Danke, das ist zuviel für mich. Der Ire verabschiedet sich –
vielleicht trifft man sich irgendwo noch einmal – und läuft mit seinem Bruder
weiter. Ein weitere kleine Pilgertruppe, alle Nationalitäten durcheinander
trifft ebenfalls noch an der Bar ein. Wir begrüßen und, tauschen einige Worte
und dann laufe ich weiter. Der Weg führt direkt in einen Wald herein und führt
kontinuierlich bergauf, aber die Wegbeschaffenheit ist ganz gut.
Durch den Wald
erreiche ich das nächste kleine Dörfchen – Bolibar. Auch wenn der Weg von
Markina nach Cernaruzza nur 7 Kilometer lang ist, kommt es mir doch weiter vor.
So nutze ich das Vordach der Kirch von Bolibar und setze mich dort in den
Schatten um eine weiter Pilgerpause einzulegen. Im Schatten trinke ich etwas
Wasser und verdrücke eine inzwischen sehr matschige Banane und einen Pfirsich.
Nach dieser Pause muss ich nur noch dem Wegweiser zum Kloster folgen, das ca.
40 Minuten bergauf entfernt liegen soll. Der Weg besteht aus historischem
Pflaster und so schön wie historisches, altertümliches Pflaster ist, so uneben
ist es auch. Die Steine liegen alle irgendwie auf dem Weg und so beginnt der
Balanceakt zum Kloster von Cernaruzza. Der Weg ist nicht nur schwer zu laufen,
er führt auch kontinuierlich mehr oder wenig steil bergan, ist aber wunderschön
und führt mitten durch die grüne Natur.
Am Ende des Weges ist eine Albergue ausgeschildert, aber ich wundere
mich etwas, weil diese laut meinem Pilgerführer in dem alten Kloster und nicht
in einem Hotel liegen soll. Dennoch folge ich dem Schild zur Albergue, die
direkt am Weg liegt. In einem Hotel erfahre ich, dass hier Hotelbetten als
Albergue für teures Geld vermietet werden, die eigentliche Herberge am, wie im
Reiseführer beschrieben, im Kloster liegt. Also laufe ich die kleine Landstraße
die letzten Meter zum Kloster hoch und frage im Klosterlädchen nach der
Herberge. Ein Mönch teilt mir mit, dass die Herberge erst um 15 Uhr geöffnet
wird und ich dann gerne noch einmal fragen soll. Bis 15 Uhr sind es noch einige
Stunden hin und so setze ich mich im Klostergarten auf eine Bank.
Plötzlich
öffnet sich die Tür vom Gemüsegarten und ein Mönch kommt auf mich zu. Er sagt
mir, dass er der Mönch ist, der die Herberge betreut und ich gerne schon
reinkommen kann. Ich bin nicht die erste Pilgerin des Tages, Ida aus Madrid ist
bereits vor mir angekommen. Sie ist heute wie ich in Markina gestartet, aber
ihre Füße brauchten dringend eine Pause.
Dankbar betrete ich die kleine Einraumherberge. In dem
kleinen Raum stehen vier Etagenbett und eine einzelne Liege und es gibt einen
langen Tisch mit Stühlen. Toiletten und Duschen liegen außerhalb an der Straße,
aber das macht mir nichts aus. Im Laufe des Nachmittages treffen noch die
Pilger aus der letzten Bar ein. Tobi, ein Düsseldorfer, der daheim gestartet ist,
eine Koreanerin, Joschuha, der niederländische Pilger aus Laer, Janina,
Tatjana, ein Israeli. Gemeinsam besuchen wir am Abend die Messe der Mönche,
danach werden wir durch die Mönche mit einer heißen baskischen Suppe versorgt.
Inzwischen hat es ordentlich abgekühlt und es regnet. Die Berge liegen allesamt
in dicken, grauen, tief hängenden Wolken.
Beim Abendessen herrscht eine eigenartige Stille, niemand
sagt etwas. Nach dem essen, ich habe etliche Kleiderschichten angezogen, lege
ich mich in mein Bett um wieder warm zu werden. Wandertechnisch habe ich heute
keine Höchstleistung erbracht, aber trotzdem bin ich total geschlaucht und mir
tut alles weh.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen