Saint-Just-Ibarre – Saint-Jean-Pied-de-Port
23,3km
Um 6.00 Uhr schellt mein Wecker, etwas was sonst auf dem Weg noch nicht passiert ist. Warum auch? Zeit- und Bettennot gab es bislang nicht.
Ich erinnere mich beim Einpacken kurz an die Nacht. Als ich zum Klo musste, saß die große Katze auf dem Sofa vor meinem Zimmer.
Auf dem Weg zurück ins Bett nahm ich die Katze auf dem Arm mit mir ins Zimmer und setzte sie neben mich auf mein Bett, auch ihr gefielen die Streicheleinheiten durchaus. Ich weiß, dass es meinen Katzen daheim gut geht, tagsüber denke ich nicht an sie (sofern nicht gerade eine Katze in mein Blickfeld kommt), aber abends vermisse ich sie.
Mit der Katze neben mir schlafe ich noch eine Runde, meine Zimmertür steht einen Spalt weit offen, so dass Madame sich verziehen kann, wenn ihr danach ist. Wie lange sie bei mir geblieben ist, weiß ich nicht. Morgens beim Erwachen war sie nicht mehr anzutreffen.
Die Frühstückstafel ist schon gedeckt, die Hospitalieros treffe ich, wie angekündigt, nicht mehr an, aber der Sohn weist uns noch einmal darauf hin, dass wir das Haus mit ihm um 7.00 Uhr verlassen müssen. Er muss zur Schule und wir müssen dann gehen oder im Garten die Dämmerung abwarten.
Gemeinsam frühstücken wir. Es ist sehr angenehm, wenn man sich morgens an den reich gedeckten Tisch setzen kann, diesen Luxus hatte ich in den bisherigen Tagen nicht.
Ich ringe mit mir, welchen Weg ich heute gehe. Nehme ich den einfachen, gleichlangen Weg über die kleine Landstraße, oder nehme ich den Naturweg über die Berge? Die Berge wären mir lieber, aber aufgrund des Wegzustandes hat man uns davon abgeraten. Viel schlimmer als im aufgeweichten Dung und Matsch bergan zu laufen kannn es eigentlich nicht werden. Wäre da nicht der Zielort St. Jean Pied de Port und die zu erwartenden Pilgermassen...
Als wir aus dem Haus gehen ist es noch stockdunkel, warten möchte ich aber auch nicht (wer weiß, wie voll es heute am Tagesziel ist).
Da der Weg schon früh von der Landstraße abzweigt, bleibe ich auf dem Sträßchen, über Stock und Stein im Dunkeln? Ohne mich, viel zu gefährlich.
Auf der Halbzeit des Weges treffen beide Wege fast aufeinander, ich habe die GPS-Koordinaten und wenn mir danach ist, wechsel ich zum entsprechenden Zeitpunkt bei Helligkeit den Weg.
Auf der Landstraße kann man den Weg nicht verpassen, auch hier sind Wegweiser angebracht. Es dämmert, aber der Himmel ist nicht so klar wie in den letzten Tagen. Es ist bedeckt, die Wolken sehen weder typisch nach Regen noch nach gut Wetter aus, aber laut Wettervorhersage kündigt sich eine Regenfront an.
Der Blick nach rechts und links zeigt die Berge, die nicht mehr so hoch, weniger bewachsen und leuchtend bunt aussehen. Der Blick nach vorne zeigt ein Sträßchen, dass kontinuierlich ansteigt.
Mindestens 4km soll es am Stück aufwärts gehen. Zum Glück wird man nur sehr selten von einem Auto überholt, woher die mir unbekannten Pilger plötzlich von hinten kommen und im Affenzahn vorne wieder entschwinden weiß ich nicht. Begegnet bin ich ihnen zuvor noch nicht.
Auf dem Sträßchen komme ich zügig vorwärts, einige Kuhweiden, Schafweiden, und viel grün entlang der Straße begleiten mich.
Heute treffe ich in Saint Jean Pied de Port ein, der letzte Ort in Frankreich bevor ich morgen die spanische Grenze überschreite. Der Weg hier in Frankreich hat mir sehr gefallen. Ich kann mir jetzt durchaus vorstellen, irgendwann einmal durch Frankreich zu pilgern. Die Einsamkeit hat mir gut gefallen - sie ängstigt mich überhaupt nicht - ab morgen, nein, ab nachher, wird es damit für drei Tage vorbei sein.
Eine Reservierung in St. Jean Pied de Port habe ich nicht, obwohl jeder weiß, dass es am Einstieg in den Camino Frances voll ist. Ich vertraue darauf, dass die Albergue Municipal ein freies Bett für mich hat, ansonsten, gibt es in dem Ort reichlich Hostals, Pensionen und Hotels in jeder Preisklasse.
Die Steigung zieht etwas an und dann ist es da: ein Hinweisschild zu dem einzigen Hotel mit Bar am Wegesrand.
Auch wenn ich heute morgen gefrühstückt habe: ich werde die Bar für eine Pause nutzen, den Umweg von 200 Metern laufe ich gerne.
Entweder bekomme ich ein freies Bett in der öffentlichen Herberge oder nicht, an dem Kaffee wird es nicht liegen. Ich biege nach rechts ab und gehe zur Bar die gerade geöffnet wird. Ich bin ganz im Hotel und bestelle mir einen Café au Lait. Von der Terrasse hat man einen wunderschönen Blick über das Tal und man erklärt mir, dass einer der Orte in der Ferne Saint Jean Pied de Port ist.
Mein Tagesziel liegt in ca. 11-12km im Tal vor mir. Man bietet mir an mich rein zu setzen, dort ist es wärmer, aber ich bin vom Laufen gut temperiert und bleibe draußen. In Ruhe kühlt man schnell aus und ich spüre, dass es morgens vor 10.00 Uhr noch nicht sehr warm ist. Es gibt wlan und so schicke ich meinen Lieben eine kurze Nachricht.
Nach einem Stempel für die Credencial geht es weiter. Ich schaue auf die Karte und laufe in die Richtung wo es laut Karte auf den Naturweg übergehen soll. Es ist leicht nach der Karte zu laufen, der rote Punkt zeigt mir auf dem Display genau wo ich bin, aber ein Weg ist hier nicht zu erkennen, auch wenn er hier angeblich ist. Ginsterbüsche und Farne stehen neben der Straße und ziehen sich den Hügel hoch, aber ein Weg?
Ich schlage mich ins Gebüsch, nicht glaubend, dass ich richtig bin, aber dann ist dort auf einem Stein am Boden der rote-weiße Wegweiser. Der Weg ist zugewuchert und nur fußbreit, aber nach einigen Metern wird der Weg im Boden sichtbar. Der Weg ist nur ein Trampelpfad, läuft am Hang etliche Höhenmeter über der Straße, aber immer parallel zu dieser. Dadurch, dass der Weg durch Sträucher, Brombeeren, Disteln, Farne und Ginster linksseitig gesäumt ist, hat man durch die Büsche einen wunderschönen Blick.
Und dann ist dort plötzlich der magische Moment. Rechts am Hang vor und über mir, sehe ich in der Ferne die Silhouette mehrerer großer Vögel. Ich bin mir sicher, dass dort auf dem Stein zwei Geier sitzen und der in der Luft über mir kreisende Vogel ist auch ein Geier. Dadurch, dass ich diese Vögel noch nie in freier Natur gesehen und auch hier nicht erwartet habe, hat der Moment etwas ganz Besonderes für mich.
Ich näher mich noch soweit es geht, halte eine Weile inne und beobachte die Vögel. Im Wind sitzen sie in aller Seelenruhe und schauen in die Umgebung. Der in der Luft kreisende Geier kommt nicht weit entfernt hinunter und sitzt auf einem Stein in der Nähe.
Mit dem Gefühl, dass die Zeit heute Einfluss auf die Bettensuche haben könnte, gehe ich weiter. Nach wie vor läuft der Weg oberhalb der Landstraße
und dann stehe ich mal wieder auf einem Drahtzaun/Gatter und komme nicht weiter. Aber diese Situation kenne ich inzwischen und ich öffne routiniert den Draht und muss nun steil auf direktem Weg auf Schotter und ausgewaschener Erde den Berg zur Straße runter steigen. Immer diese Abstiege! Sie sind nicht meins, da ich meine Gangunsicherheit im Abstieg so stark merke.
Die Angst hemmt mich, die Angst macht mich unsicherer und bremst mich aus. Der Weg ist nicht gefährlich, keine Absturzgefahr, aber immer die Angst zu fallen und sich eine Verletzung zuzuziehen.
Letztendlich komme ich wieder auf die Landstraße die ich ursprünglich gekommen bin und die ich immer von oben gesehen habe. Wäre ich die Straße gelaufen, hätte ich diesen magischen Moment mit der Geierbegegung nicht gehabt. Der „Bergweg“ war nicht zu vergleichen, mit den Bergetappen der letzten Tage, aber es hat sich absolut gelohnt.
Mein Sträßchen trifft irgendwo auf ein anderes Sträßchen und schon bevor ich in dieses nach links abbiege, kommen plötzlich dutzende Pilger über den Weg. Was ist das denn jetzt? Bis Saint Jean sind es noch 4-5km, der Bahnhof kann es auch noch nicht sein, der liegt nicht so abseits. Vor dem Abzweig nach links hängt ein Schild am Baum:
Fin GR. 78.
Hier endet der Camino Piamonte und stößt auf den letzten Kilometern auf die Via Podiensis, die aus Le Puy kommt.
Es ist merklich voller und so lege ich noch etwas an Tempo zu. Schon vor dem Stadtrand gibt es viele Pilgerunterkünfte. Die letzten Kilometer ziehen sich in die Länge und plötzlich bin ich an der alten Burganlage von Saint Jean. Einmal durch das alte Stadttor und man ist in der Altstadt, wo man nach nur wenigen Metern rechts die Herberge liegen hat.
Ich bin umgeben von Pilgermassen, überall stehen Rucksäcke, sitzen Menschen auf dem Boden und warten.
Unerwartet höre ich meinen Namen. Angela, Gionata, Marisa und Dalain sitzen an einem Brunnen und rufen mich. Ich freue mich sie zu sehen, stelle meinen Rucksack ab und setze mich dazu. In einer Stunde öffnet die Herberge, zahlenmäßig dürften die Wartenden die Betten noch nicht ausfüllen. Ich denke, dass viele, die in diesem Ort starten, reservieren, so wie ich es auch immer am ersten Tag mache. Nach der Anreise habe ich keinen Nerv und keine Energie mehr von Herberge zu Herberge zu laufen um ein Bett zu finden.
Gemeinsam lachen und erzählen wir und erstmals seit meinem Reisestart höre ich wieder deutsche Stimmen und nicht nur eine. Auf keinem Weg zuvor ist es mir passiert, dass ich die einzige Deutsche bin. Um 14.00 Uhr checken wir ein, ich habe ein Bett im Kellergeschoss, es folgt das übliche Prozedere. Für viele ist es der erste Pilgerweg, alles ist neu, sie kennen noch nicht die Routine, den Ablauf wie es die Meisten auf dem Weg machen. Ankommen, Bett herrichten, Schlafsack auf das Bett, Schuhe im Flur, Rucksack niemals auf das Bett stellen, duschen, waschen, Siesta und Stadtbesichtigung.
In dem Aufenthaltsraum mit Küche treffen wir fünf zufällig aufeinander. Gionata hat eine große Dose mit Eintopf gekauft und diese wärmen wir in der Mikrowelle kurz auf. Ich steuere eine Melone zum Essen bei, Wasser gibt es aus dem Wasserhahn, etwas Schokolade und einige Kekse als Nachspeise und so ist für alle genug zu essen da.
In der Touristeninformation frage ich nach Informationen zum Camino Baztan und bekomme einen Zettel mit einem Höhenprofil. Ich erfahre in der Touriinfo, dass heute schon 400 Credencials an Neupilger ausgegeben wurden. In Roncesvalles dürfte es sehr voll werden und man wird zügig laufen müssen um ein Bett zu bekommen.
Ich schlendere durch das Städtchen, kaufe im Sanitätshaus eine Kniebandage, fülle meine Essensvorräte auf. Nüsse, etwas Obst, Wasser braucht man immer, und gehe zur Herberge zurück. Es hat angefangen zu regnen, für morgen ist die Wetterprognose nicht gut.
Auch wenn ich es eigentlich nicht möchte: morgen werde ich mir den Wecker stellen und um 6.00 Uhr bei Dunkelheit aufbrechen. Es geht über die Straße bergauf, dass werde ich im Dunkeln finden. Laut meiner App kann man in Roncesvalles keine Betten reservieren, aber ich habe erfahren, dass viele dort gebucht haben. Genau darum wollte ich nicht auf den Frances: Gerenne um Betten in Massen von Pilgern. Und trotzdem ist es schön hier zu sein, im Aufenthaltsraum die Stimmung zu spüren, die Spannung derjenigen, die noch nie einen Camino gelaufen sind, von seinen Erfahrungen und Erlebnissen zu erzählen und den Anderen zuzuhören.
Gemeinsam verbringen wir zu fünft den letzten Abend. Angela und Gionata werde ich wohl nie wieder sehen. Es waren schöne gemeinsame Tage in den Herbergen und es fühlt sich so an, als ob wir uns schon viel länger kennen. Der Weg verbindet. Mit Marisa und Dalain werde ich noch 2 gemeinsame Etappen auf dem Frances laufen, dann trennen sich auch unsere Wege. Aber das ist Camino. Der Camino spiegelt das Leben: die Geburt ist der Beginn eines jeden neuen Weges, das Wachsen, und das Leben genießen ist die stillvergnügte Routine mit allen Anstrengungen und Freuden des Wanderns und des Weges und dann kommt der Tot mit der Hoffnung auf ein weiteres Lebenn: der Abschied vom Weg, die Trauer und die Gnade, angekommen zu sein und den Weg hinter sich zu lassen- immer in der Hoffnung alles Erlebte und Erkannte in sein Leben zu integrieren und vielleicht eines Tages einen neuen Weg einschlagen zu können. Sowohl praktisch, als vielleicht auch noch einmal pilgernd.
Um 21.00 Uhr ist es wie immer. Der Tag ist frühzeitig beendet, alle sind müde und schlapp und verziehen sich zum Regenerieren in den Schlafsack, dort schreibe ich mit Einsetzen der Dunkelheit mein Tagebuch
Es ist kühl und es regnet heftig, ich höre die Tropfen an die Fenster klopfen. Für morgen ist Dauerregen angesagt... Es kommt wie es kommt.
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