1. Juni 2025
Mar-Cobreces, 24,7km
Auch die letzte Nacht bin ich wieder nicht zur Ruhe gekommen. Ruhiger als in diesem kleinen Dorfhotel kann es eigentlich nicht sein. Kein Auto, keine lauten Türen, keine Stimmen. Trotz, dass ich hundemüde war, brauchte ich sehr lange um einzuschlafen. Es ging auf 1 Uhr zu als ich endlich einschlief. Nach wenigen Stunden bin ich wieder wach, noch vor meinem Wecker den ich mir zur Sicherheit gestellt habe. Zufällig starte ich zur gleichen Zeit wie gestern, wieder ist es 6.50 Uhr.
Gestern, auf dem Rückweg vom Supermarkt, sah ich, dass der Weg auch von meinem Hotel ausgeschildert war, und ich nicht zwingend ins Dorf zurück muss. Dieser Weg läuft anfangs nicht an der Straße, sondern an der Bahnlinie entlang, die die große Fabrik versorgt. Immer die Sorge, den Weg nicht zu finden, aber mit dem Gedanken: besser als Straße, folge ich diesem anfangs. Vor mir sehe ich keine weiteren Wegweiser, an einer Brücke bin ich gestern vom Supermarkt auf diesen Weg gekommen. Muss ich auf die Straße zurück, kann ich dem Bahndamm weiter folgen? Da der Weg am Bahndamm eindeutig ausgeschildert war und es keinen Abzweig an der Stelle gibt, wo ich gestern auf den Weg heruntergeklettert bin, folge ich dem Weg weiter. Der Weg endet abrupt in einer Baustelle und hier gibt es eine Fußgängerbrücke über die Schienen und ich stoße wieder auf den regulären Weg. Heute geht es genau so unspektakulär weiter, wie es gestern geendet hat. Ich folge der Nationalstraße und laufe Kilometer für Kilometer an dieser entlang. In der Ferne sehe ich eine große Fabrik, die ihre Abgase in die Umgebung pufft.
Nur wenige Kilometer hinter Mar finde ich eine Bar, die am frühen Sonntagmorgen schon auf hat. Nicht wissend, wann es die nächste Einkehrmöglichkeit gibt, setze ich mich in die Bar und bekomme ein kleines Pincho zum Kaffee. Danach setze ich meinen Weg in Richtung Fabrik fort.
Am Straßenrand liegt immer wieder viel Abfall, auf dem Weg viel Hundekot – idyllisch ist etwas Anderes. Zeitweise nieselt es, aber noch hält sich der Regen in Grenzen. Dem Himmel traue ich nicht. Schon heute Nacht hat es zeitweise geregnet, gestern Abend auch.
Die Fabrik wird immer größer bis ich vor ihr stehe. Das Ungetüm gehört zur Solveig-Chemie. Solveig stellt, soviel im im Hinterkopf habe, auch Medikamente her.
Immer wieder ziehe ich meinen Regenponcho an und aus, der Regen ist nicht stark, aber vorhanden. Hinter der Fabrik geht es auf eine kleinere, weniger befahrene Straße. Am Wegesrand ist Altamira ausgeschildert. Altamira, so weiß ich, ist für seine alten Höhlen mit Steinzeitmalerei bekannt. Soll ich einen Umweg versuchen? Gerne würde ich mir die Höhlenmalereien anschauen. Heute sind es 25km, es sind mindestens 3km bis Altamira und wo dann die Höhle liegt: ich weiß es nicht. Zurück muss ich ja auch noch laufen. Also 6km plus ???
Ich verwerfe den Gedanken, so reizvoll er mir auch erscheint.
Am Wegesrand sehe ich eine Katze, zerrupft und sie atmet nicht ganz normal. Sie tut mir leid, aber helfen kann ich nicht. Ich streichele sie etwas, wasche mir im Anschluss mit meinem Trinkwasser die Hände und lasse sie zurück. Sie miaut mir hinterher und ich mache mir Gedanken, was mit ihr passiert...
Immer auf dem Bürgersteig oder dem Seitenstreifen der Straße laufe ich Kilometer für Kilometer. Es gibt keine Besonderheiten, nichts, was zum Staunen anregt. Immer mal wieder nieselt es für ganz kurze Zeit.
Und obwohl, oder vielleicht weil, es auf dem Weg sehr eintönig ist, erreiche ich Santillana del Mar schneller als erwartet. Es ist noch vor 10 Uhr.
Der Dorf- oder Stadtkern ist historisch sehenswürdig. Alte, schöne Gebäude reihen sich aneinander. Mir ist nicht nach einer großartigen Besichtigung, mir liegen noch diverse Kilometer bevor und so setze gehe ich in eine Bar in historischem Gebäude direkt am Weg. Neben mir sind nur 2 weitere Damen in der Bar.
Ich setze mich nach draußen auf eine steinerne Bank vor der Tür und suche mir noch einen Stuhl um die Beine hochzulegen. Auf diese Art und Weise komme ich nicht mehr an den Tisch und stelle mein Croissant auf die Fensterbank.
Direkt hinter dem Fenster sitzen die zwei Damen und wir kommen ins Gespräch – so wie es mit meinen rudimentären Sprachkenntnissen geht.
Man ist erstaunt, dass ich alleine laufe, eine Peregrina sola. Ebenso sind sie erstaunt, dass ich auf den Lebaniego/Vadiniense möchte. Ob ich wüsste, dass ich durch die Berge muss? Und wirklich alleine? Ja, ganz alleine, aber mit viel Pilgererfahrungen. Ich weise auf meinen selbst gestalteten Rucksackanhänger, ein Muschelbild mit all meinen Wegen und erzähle und zeige, dass es in meiner Heimat flach ist: No Montanges!
Nach der kleinen Pause gehe ich zu der inzwischen geöffneten Touristeninformation und hole mir einen Stempel für die Credencial. Dort sehe ich auch ein Pilgerpärchen und komme mit ihnen ins Gespräch. Sie setzen heute ihren Camino del Norte fort.
Irgendwie befremdlich, ich werde von dem Pärchen, dass etwas älter ist als ich, gesiezt. Auf dem Camino duzt man sich. Noch nie wurde ich mit Sie angesprochen.
Im Anschluss drehe ich noch eine weitere kleine Minirunde durch das Dorf. Die Kirche ist verschlossen und im Eingang leuchtet eine Spiegelvitrine mit Gebäck (was ich nicht erwartet habe). Hinter Santillana del Mar wird es endlich ländlicher. Es geht auf Landstraßen weiter. Inzwischen hat sich der Regen so entwickelt, dass ich mit Poncho laufen muss. Da es mir, so wie immer, viel zu warm unter dem Poncho ist, krempele ich die Ärmel hoch, die Kapuze bleibt unten. Ich habe immer das Gefühl, dass der Körper unter dem Cape nicht atmen kann, sich die Hitze richtig staut.
Dieses Jahr laufe ich in einem roten Cape. Die Ärmel sind nur kurz angeschnitten, Vorder- und Hinterteil lassen sich an der Seite zuknöpfen. Absichtlich habe ich mich dieses Mal gegen ein Regencape in Mantelform entschieden. Mit dem Vorderteil wedel ich immer mal wieder in dem ich es hoch und runter schwenke, die Knöpfe in der Seite sind auf und auf diese Art hoffe ich auf Luftzirkulation und ein entweichen der feuchten Schwitzluft. Es hilft nur mäßig…
Ich wander an gut tragenden Zitronen- und Mandarinenbäumen vorbei. Zu gerne würde ich eine der Früchte probieren und denke dabei an die frischen Organgen aus dem Garten der Casa Fernanda vom Portugues. Was haben diese Früchte herrlich geschmeckt. Sie sahen nicht so schön aus wie im Supermarkt, aber das Aroma, die Süße und Saftigkeit waren ein Traum…
Schritt für Schritt vorwärts. Ich sehe fast keinen Pilger. Einmal sehe ich das Pilgerpärchen aus Santillana del Mar hinter mir, mal sehe ich einen Pilger in der Ferne vor mir. Und was mir auffällt: es ist plötzlich so leise. Bislang hatte ich ständig Motorenlärm hinter, neben, vor und über mir und plötzlich höre ich nur noch den Wind, das Rauschen der Bäume. Ich höre den Regen sachte rieseln, ich höre die Vögel und beobachte sie.
Über längere Zeit sehe ich weiße Vögel in der Ferne vor mir und komme näher. Ich weiß, es sind keine Möwen. Die Vögel sind etwas größer und fliegen ständig über eine Kuhweide. Aus der Ferne denke ich, dass einer der Vögel etwas erhöht hinter einer Kuh in der Wiese sitzt. Als ich näher komme sehe ich, dass der Vogel auf einer Kuh hockt. Ich finde das ungewöhnlich und wundere mich. Abends, als ich schon in meiner Unterkunft bin, schreibe ich meiner lieben Freundin Annette, Vogelfreundin, einen Gruß und hänge ein Foto von Kuh mit Vogel und die Frage ob sie diesen Vogel kennt. Und siehe dar, die Antwort kommt prompt.
Es handelt sich um einen Kuhreiher. Die Vögel halten sich gerne in der Nähe von Weidetieren auf, da diese die Insekten aufscheuchen die von den Vögeln gefressen werden. Also passst alles, Vögel auf und bei den Kühen und das Vergleichsfoto.
Heute empfinde ich das Laufen zeitweise anstrengend. Ich habe Schmerzen im Oberschenkel, die seitlichen Waden ziehen, die Unterschenkel fühlen sich müde an.
Cobreces sehe ich in der Ferne und es kommt langsam näher. Weiter ist es am Regnen und am Nieseln, die Wolken sind dunkel und hängen tief. In Cobreces liegen 2 Kirchen auf einem Berg.
Kurz vor Cobreces werde ich wieder auf eine Straße geleitet die in die Stadt führt. Ich folge dem Wegweiser und biege nach rechts ab. Auf einem steilen, vermoosten Sträßchen geht es steil bergab und mir graust es vor dem grünen Straßenbelag. Dieser ist an einigen Stellen sehr rutschig und endet auf einer größeren Straße. Weit und breit finde ich keinen Wegweiser. Geht es nun nach rechts? Dann wäre der Ort schon wieder zu Ende, oder geht es nach links in den Ort? Ich entscheide mich für links. Meine Logik sagt mir, dass die Herberge irgendwo in Kirchennähe im Ort ist. Nach kurzer Zeit ziehe ich mein Navi zu Rate. Ich bin müde, erschöpft und unsicher zwecks Wegführung und habe keine Lust auf weitere Regenkilometer. Als ich mich auf dem Navi vergewisser kommt eine ältere Dame aus einem benachbartem Haus. Gerade als das Navi mir den Weg anzeigt spricht die Dame mich an, wo ich hin möchte. Ich sage ihr, dass ich auf dem Weg zur Herberge bin. Leider klappt es mit der Verständigung nicht. Sie denkt ich suche die Herberge und sie weiß als Einheimische auch nicht, wo die Unterkunft liegt. Dass mir das Navi den Weg zeigt und ich meine Herberge finde, versteht sie nicht.
Als erstes drückt sie mir eine halbe, geschälte Orange in die Hand die sie selbst gerade essen wollte und rennt zum Nachbarhaus. Sie fragt ihre Nachbarin nach dem Weg und besteht darauf, mich dort abzuliefern. Mir tut die ältere Dame leid, es geht den Weg steil wieder hinauf und ich stelle fest, ich hätte auch der Straße am Stadteingang folgen können. Die Dame keucht und schnauft und steigt mit mir empor. Weit ist es nicht und bald stehe ich an der Jugendherberge von Cobreces.
Die Jugendherberge hat ein Pilgerzimmer mit 10 Etagenbetten.
In der Jugendherberge ist es laut und trubelig, der Speisesaal sitzt voll mit Kindern beim späten Mittagessen. Ich erinnere mich an die Mailzusage für mein Bett mit dem Hinweise, dass es laut werden könnte.
Ich checke ein und bekomme den Hinweis, dass die Kinder abends nicht hier übernachten und es im Verlauf leiser wir. Es stört mich nicht.
In meinem Schlafraum gibt es auch mehrere Sofas, Wasserkocher, Gläser und Tassen, Tee, Pulverkaffee und eine Glaskaraffe. Jeder Pilger bekommt beim Einchecken eine Pinwandnadel die im Schlafraum in die Landkarte gesteckt wird. So viele Nadeln stecken in der Landkarte, so viele Nationen habe hier schon übernachtet.
Aus Angst vor Bettwanzen muss jeder seinen Rucksack in einen großen blauen Müllsack verpacken.
Neben mir sind nur 2 weitere Betten belegt, meine 2 Mitbewohner kennen sich. In einem 2Bett-Zimmer übernachtet ein belgisches Ehepaar, dass ich beim Waschen kennen lerne. Wir teilen und eine Waschmaschine und den Trockner und so ist alles nach kurzer Zeit sauber und trocken.
Mein Bein tut weh, unter meiner Kniebandage habe ich einen Ausschlag entwickelt. Ich hoffe, dass die Haut sich bis morgen bessert. Mir tun meine Muskeln- und Sehnenansätze weh und nachdem ich mich etwas ausgeruht habe, fällt der Neustart sehr schwer. Mein Laufbild ist auffällig, ich werde darauf angesprochen, ob ich Blasen oder eine Fuß/Beinverletzung habe. Hoffentlich hilft das Ibuprofen…
So wie angekündigt, gibt es heiße Duschen. Und so wie angekündigt und angeschlagen, brauchen die Duschen sehr lange zum warm werden.
Wie viele Liter Wasser werden hier verschwendet. Sicherlich stehe ich mindestens fünf Minuten vor der Dusche und das Wasser ist immer noch nicht warm. Und dann von jetzt auf gleich kommt glühend heißes Wasser aus der Leitung. Die Duschzeit ist kürzer, als das Aufheizen des Wassers.
Als ich frisch geduscht die Herberge verlasse klart es auf und ich habe es nicht geahnt und gesehen: nicht weit von mir entfernt sehe ich das Meer. Klar, ich bin auf dem Küstenweg, aber seit dem Start in Santander war das Meer nicht zu sehen.
Mit meinem Tagebuch sitze ich in der benachbarten Bar, abends esse ich mit dem Ehepaar gemeinsam zu Abend und wir lassen den Tag ausklingen. In der Bar wird es immer voller und lauter. Ein Fußballspiel wird im Fernsehen übertragen und viele schauen hier gemeinsam das Spiel. Mir ist es zu voll, mir ist es zu laut und so verabschiede ich mich und begebe mich zur Ruh.
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