Die Geschichte meines Jakobsweges

2008 Camino Frances, Pamplona -Santiago de Compostela, 2010 Via de la Plata, Sevilla - Salamanca, 2011 Via de la Plata, Salamanca - Santiago + Camino Finisterre, 20212 Camino del Norte, Hondarribia - Gurriezo, 2014 Camino Primitivo, Oviedo - Santiago, 2017 Camino Ingles, Ferrol - Santiago, 2022 Camino Portugues, Porto - Santiago, 2024 vier Caminos ein Weg, Via Tolosana - Camino Piamonte, Camino Frances, Camino Baztan entgegen der Richtung: im Zickzack durch das Baskenland: Artigelouve - Oloron Saint Marie, Saint Jean Pied de Port - Trinidad del Arre - Bayonne

Santander - Mar, 31.05.2025

 31. Mai 2025

Santander – Mar, 24,7km


Die Nacht war halbwegs furchtbar. Habe ich geschlafen? Ich weiß es nicht, mein Gefühl sagt nein.

Ein Trupp Koreaner ist in der Nachbarkabine relativ laut, es dauert etwas bis Ruhe einkehrt und noch länger, bis irgendwer sich bemüht, das Licht auszumachen. Wer ist dafür zuständig? Der letzte der sich hinlegt? Wie soll man das wissen, man kontrolliert nicht jeden Schlafplatz. Ist derjenige zuständig, der das Bett in Nähe des Lichtschalter hat? Es gibt keine Regeln. Meist läuft es darauf hinaus, dass irgendwer irgendwann genervt aufsteht und das Licht ausmacht.

Obwohl ich meinen Bettplatz neben dem geöffneten Fenster habe und darauf achte, dass es nicht geschlossen wird, ist mir viel zu warm. In der Herberge gibt es richtige Bettwäsche, die Matratzen sind bequem und dennoch komme ich nicht zur Ruhe. Ich wälze mich hin und her, liege ganz ruhig – der Schlaf will einfach nicht kommen.

Sind es unterbewusste Sorgen und Ängste vor dem Weg? Vorstellen kann ich es mir nicht. Ich freue mich auf alles was vor mir liegt, aber die Vorfreude war eine ganz andere Freude als ich es sonst hatte.

Habe ich sonst immer meinen Weg herbeigesehnt, die Wochen und Tage gezählt, war es dieses Mal ganz anders.

Ich denke, es hängt mit dem noch nicht so lange zurückliegendem Tod von Papa zusammen. Die Gedanken waren oft daheim. Gut, dass ich meinen Weg langfristig geplant habe, dass die Etappen geplant und die Unterkünfte gebucht sind.

Die Vorabplanung und Buchung macht mich im Ganzen unflexibler und dennoch gibt es mir eine Beruhigung, dass ich weiß, ich habe fast überall ein Bett. Einige Orte zum Ende des Weges lassen sich nicht vorab reservieren, aber die Herbergen sind nur für Pilger. Der Weg ist relativ wenig begangen und so hoffe ich (ich gehe davon aus), dass ich ein Bett bekommen werde. Sorgen bereitet mir dieses nicht.

Es wird geschnarcht, immer mal wieder steht jemand auf zur Toilette. Gut, dass die engen Wege zwischen den Betten nicht durch die Rucksäcke blockiert werden.

Gegen 6.00 Uhr kommt Unruhe auf, alle erwachen und bereiten sich auf die neue Etappe vor.

Ein großer Teil meiner Mitpilger laufen heute bis Santillana del Mar. Ich laufe knapp 25km bis Mar, dort wartet ein Hotelzimmer auf mich.

Auf meinem oberen Etagenbett sitzend ziehe ich mich an. So mache ich es seit 2008 und für mich hat es sich als gut erwiesen. Am Bett hängt die Kleidung für den Folgetag, die Schlappen stehen vor dem Bett und zuoberst im Rucksack liegt meine Pseudokulturtasche – ein Gefrierbeutel mit Zippverschluss. Auch wenn es einem manchmal paranoid vorkommt alles auf die Waage zu legen und im Gewicht zu optimieren: viele kleine Grammzahlen läppern sich schnell mal zu einem größeren Betrag zusammen und alles muss getragen werden. So habe ich gestern bei der Vorbereitung für den heutigen Tag gemerkt, dass ich den falschen Aufsatz für die handeslüblichen Wasserflaschen eingesteckt habe. Diesen Trinkschlauch trage ich umsonst mit mir herum. Klingt nicht viel, der „Fehler“ hätte nicht sein müssen. Nicht dass ich auf die Idee käme, diesen Gegenstand zu entsorgen, aber es „ärgert“ mich kurz, dass ich den Verschluss nicht mehr getestet habe. Einerseits erwärmt sich das Wasser im Trinkschlauch schnell, aber mit Trinkschlauch trinke ich regelmäßiger und mehr, da ich den Rucksack nicht jedes Mal zum Trinken absetzen muss. Die Wasserflasche ist im äußeren Seitenfach des Rucksackes und ich muss meine Schulter halbwegs auskugeln um dranzukommen. Der Griff nach Hinten und das Gekrame dauert genau so lange, als wenn ich den Rucksack absetze.

Das kleine Bad ist eng und voll, Zähneputzen, Haare kämmen, etwas Wasser ins Gesicht – mehr mache ich nicht. Nach der Ankunft wird geduscht, alles andere hat keinen Sinn.

In der Küche sitzen die Koreaner, es gibt nur ganz wenig Platz und Stühle. Ich koche mir eine Tasse Pulverkaffee, esse einen Joghurt und gehe zu meinem Rucksack. Mir kommt eine Pilgerin im Flur entgegen. Schon gestern habe ich sie in der Herberge gesehen. Sie kann fast nicht auftreten, stützt sich auf einen Stock und humpelt auf das Heftigste. Auch wenn sich so gut wie nicht laufen kann, möchte sie heute weiterhumpeln, auf einem Bein hüpfen und das mit großen, schwer wirkenden Rucksack. Im Treppenhaus ziehe ich meine Wanderschuhe an, verabschiede mich vom Hospitaliero mit dem Hinweis, dass ich in 2 Wochen auf der Rückreise wieder da bin an und um kurz vor 6.50 Uhr mache ich mich auf den Weg.

Igor hat mir gestern erklärt, dass es 2 mögliche Wege aus der Stadt hinaus gibt, beide ausgeschildert und ich nehme den Wegführung die direkt vor der Herberge ausgeschildert ist. Im Gehweg ist der Wegweiser als Bodenplatte eingefügt. Nach wenigen Schritten fängt mein linkes Knie an zu schmerzen. Eine Schmerzstelle die mir völlig unbekannt ist. Ich bin verwundert, warum? Warum ein mir unbekannter Schmerz, eine neue Schmerzstelle? Warum nach nicht einmal 10 Minuten in der Stadt ohne besondere Herausforderungen? Heute Nacht tat mir das Knie im Liegen weh. Ich verstehe es einfach nicht, immer ist irgendetwas.

Zu dem ist die Wegführung plötzlich unklar. Ich komme über den ausgeschilderten Weg und plötzlich zeigt der Wegweiser in die Gegenrichtung. Warum soll ich denn jetzt umkehren und in die Gegenrichtung laufen aus der ich komme? Ich verstehe es nicht. Umdrehen macht keinen Sinn, denn dann komme ich zu dem vorherigen Wegweiser dem ich gefolgt bin.

Wie es meist so ist: niemand ist in der Nähe den ich fragen könnte, auch wenn ich relativ zentral in der Stadt bin.

Das erste Mal, ich weiß nicht, wie oft ich diesen Blick auf das Navi auf meinem Weg gemacht habe, schaue ich in mein Handy. Meine App sagt, dass ich überhaupt nicht auf dem Weg bin und dieser irgendwo rechts von mir liegt. Wahrscheinlich ist der Weg in der App die andere Wegvariante. Weil ich keine weiteren Wegweiser finde, laufe ich zu der anderen Wegführung und folge dem Weg.

In der Ferne sehe ich Hafenanlagen, Kräne, das Meer und etliche Containerschiffe.

Entlang der Hauptstraße geht es weiter und dann komme ich in eine Fußgängerzone oder breite Straße mit einem großen Gehweg mit Skulpturen in der Mitte. Obwohl ich an einer großen Straße laufe, es kleine Geschäfte gibt, gibt es keine einzige Bar.

Gerne würde ich einen vernünftigen Kaffee trinken, aber ich habe noch viele Kilometer vor mir, irgendwo wird es eine Pausenmöglichkeit geben. Immer entlang der Straße, durch Industriegebiete geht es Kilometer für Kilometer aus der Stadt hinaus. Auch nach dem Stadtrand geht es über Straßen weiter. Im Speckgürtel von Santander reiht sich ein modernes Straßendorf an das Nächste. Ein Dorf, Ortsteil oder was auch immer sieht aus wie der vorherige. Alles Neubauten, alles Blöcke, alles gleich. Schön ist es nicht.

Mir fehlt das Urige der alten Dörfer, der Charme, die Ruhe. Wenn ich mal kein Auto höre, höre ich die Flugzeuge über mir. Ich befinde mich in der Einflugschneise zum Flughafen.

In Santander war die Herberge ausgebucht, wir sind alle zeitgleich aufgestanden, gesehen habe ich noch keinen von diesen Personen. Wir Pilger erkennen uns.

Kürzen einige heute vielleicht den wenig attraktiven Stadtrand mit dem Bus ab? 36Km sind eine gewaltige Distanz, auch wenn es sich auf der Straße leicht und schnell läuft. Es gibt zwei Herbergen kurz hinter Santander, diese machen aber keinen Sinn, wenn man in Santander startet, es lohnt nicht für weniger als 10km zu starten. Und was soll man in diesen modernen Straßendörfern in denen es nur einige Häuser, aber keine Bar und somit keine Verpflegung gibt?

Einmal werde ich schnell von einem Belgier überholt. Er plant heute 45km zu laufen und ist schnell unterwegs. Kurze Zeit später verschwindet er vor mir. Zwischendurch laufe ich mal eine kurze Strecke über einen schönen Landweg durch die Felder, aber ehe ich mich versehe und freue kann, ist der Weg wieder auf der Straße. Kurz darauf werde ich von einem weiteren Pilger überholt. Laut seiner Aussage hat er Einheimische am Wegesrand angesprochen, in ca. 30min Entfernung soll es eine Bar geben. Diese ist vom Weg nicht direkt zu sehen, liegt aber direkt am Weg hinter einer kleinen Grünanlage.

Inzwischen ist 10.00 Uhr durch und nach mehr als 3 Stunden Wanderung freue ich mich, dass das Frühstück nicht mehr weit sein kann. An dem beschriebenen Kreisel achte ich darauf, nicht an der Bar vorbeizulaufen und finde sie. Ohne das Wissen, das dort eine Bar ist, wäre ich an ihr vorbeigelaufen.

Ich betrete die Bar und bin erstaunt auch hier niemanden zu treffen.

Für 5 Euro bekomme ich einen großen Milchkaffee, ein Schokocroissant (heißt in Spanien Neapolitaner) und ein Stück Tortilla. Gesund ist das absolut nicht, aber ich muss das nehmen, was es gibt. Ich lasse meine Credencial stempeln, aber es es nur ein Geschäftsstempel. Etwas Ruhe, eine kleine Mahlzeit, etwas ausruhen. Erst als ich im Aufbruch bin kommt ein weiterer Pilger. Wo sind all die Anderen?

Auch nach der Pause ändert sich nichts. Eine Straße geht in die nächste über. Irgendwann stehe ich mal wieder in einem Straßendorf und weiß an einer Kreuzung nicht wo es weiter geht. Ein Blick auf meine Karte zeigt, dass ich einen Umweg gegangen bin, der in ein Straßendorf mit Herberge führt. Wenn ich jetzt die Alternative gegangen bin, wo soll der „Hauptweg“ gewesen sein. Bin ich so blind und gedankenlos, dass ich die Wegweiser übersehe? Sind sie den Baustellen zum Opfer gefallen, oder sind sie zugewuchert, entfernt, oder… Ich versteh es nicht, der Camino del Norte ist viel begangen und beliebt, aber bisher nicht sonderlich gut ausgeschildert. Gibt es keinen Wegweiser läuft man geradeaus oder folgt dem Hauptverlauf der Straße. Kurz laufe ich auf einem Naturweg, komme zu einem Fluss und folge diesem. Nach wenigen hundert Metern stehe ich auf der gleichen Straße wie zuvor. Kurz vor einem Bahnübergang höre ich eine Katze miauen. Ich halte die Augen auf und suche nach ihr. Hinter den Schienen sehe ich ein Muttertier mit einem Katzenkind laufen, aber das Miauen kommt aus einer anderen Richtung. Plötzlich sehe ich eine Bewegung in einem Schacht vor mir und sehe ein zweites Katzenkind. Als ich mich diesem näher, entschwindet es in einer Röhre. Die Katze lässt sich nicht herauslocken. Der Schacht mit der anschließenden Röhre ist höchstens 40cm tief. Das Tier wird herauskommen, ist nicht eingeklemmt oder gefangen. Ich kann dem Kitten nicht helfen, ich hoffe, dass die Mutter bald zurückkommt und sich kümmert.

Viele Geräusche erinnern mich an vergangene Wege. Das Hahnengeschrei von einem Hof erinnert mich an die Via Plata. Wie viele Hähne habe ich dort morgens krähen hören. Die Kuhglocken erinnern mich an den Camino Baztan mit den vielen Schaf- und Kuhherden. Die großen, bunt blühenden Hortensien erinnern mich an den Camino Portugues, die blühenden Rosen habe ich auf allen Wegen in dieser Jahreszeit gesehen. Diese Eindrücke sind heute nur kurz und flüchtig, nach wie vor geht es an Straßen lang und zum Glück gibt es Fuß- oder kombinierte Fuß- und Radwege, dass man etwas sicher vor den Autos ist.

Kurz vor meinem Tagesziel Mar sitzen auf einer Bank vor einem Haus zwei rote Katzen. Ich kann es nicht lassen, ich muss mit den Katzen miauen und sie antworten und lassen zu, dass ich mich näher. Es gibt eine kurze Streicheleinheit, einen kurzen Plausch mit der Besitzerin, die mich durch das Fenster gehört und angesprochen hat.

Mar ist ein kleiner Ort und mein Hotel ist schnell am Ortsausgang gefunden. Ein kleines Zimmer, ein breites Bett, Bad mit der kürzesten Badewanne die ich je gesehen habe. Vielleicht quetsche ich mich heute Abend in die Badewanne, aber entweder passt mein Oberkörper oder meine Beine hinein. Sonderlich entspannend wird es nicht werden.

Zum Glück hat es heute nur zeitweise, schnell vorübergehend genieselt. Ich bin mir aber sicher, dass es heute noch regnen wird.

Nach dem Duschen gehe ich mit meinem Tagebuch im Faltrucksack zur Bar und schreibe bei einer Tasse Kaffee meinen Tagesbericht.

Die ersten 25km liefen sich recht gut. Die Knieschmerzen verschwanden mit der Zeit, der Weg war nicht überall gut ausgeschildert, nicht sonderlich attraktiv, aber ich bin am Tagesziel.

Die ersten drei Etappen gehören zum Camino del Norte und nicht zum geplanten Camino Lebaniego y Vadiniense, aber ich nutze sie zum Einlaufen. Dass die Strecke nur aus Straße besteht habe ich zuvor nicht recherchiert. Ich bin davon ausgegangen, dass der Weg, trotz Umgebung Großstadt, durch die Natur führt, so wie die 320km die ich zuvor 2012 auf dem del Norte gelaufen bin. Es kann nur schöner werden.

In der Bar frage ich nach einem Supermarkt. Dieser liegt in fast 2km Entfernung.

Ich laufe dorthin und muss nur dem Wegweiser folgen um ihn zu finden. Ich fülle meinen Proviant auf und gehe in einsetzendem leichten Regen zum Hotel zurück.

Anschließend liege ich auf dem Bett, ruhe mich aus und kämpfe mit der Technik. Eigentlich sollten sich die Bilder vom Fotoapparat per wlan auf das Handy übertragen lassen. Ich habe die App seit langer Zeit nicht benutzt und es klappt nicht so wie ich es mir vorstelle. Liegt es an einem instabilen wlan, liegt es an mir?

Irgendwann klappt es.

Die Badewanne ist weniger entspannend als gehofft. Entweder sitze ich mit den Knien unter der Nase oder mein Rücken liegt im Wasser, der Kopf ist abgeknickt und die Beine stehen wie im Sportunterricht beim Klappmesser aus der Wanne heraus. Aber egal, das Bad und das Wasser sind im Preis enthalten. Das Hotel kostet etwas mehr als 3mal so viel wie die Herberge gestern Nacht, 49 Euro.

Sicherlich ist es kein teures Hotel, andere Schlafmöglichkeiten gibt es in diesem Ort nicht und ich bin mir sicher, dass ich nicht die einzige Pilgerin hier bin. Ruhig lasse ich den Tag ausklingen.

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