6. Juni 2025
Potes – Espinama, 27km (plus mindestens 5 Zusatzkilometer),
Unterkunft 20 Euro
Abends, ich lag schon im Bett, öffnet sich die Tür von unserem 4-Bett-Zimmer und ein drahtiger, älterer Herr, betritt den Raum. Er stellt sich als Ildefonso, Rentner und Pilger vor. Er ist heute aus Madrid angereist und möchte, wie ich, ab morgen den Camino Vadiniense laufen. Ich bin also nicht alleine auf dem vor mir liegendem Weg.
Endlich, nach 5 halbwegs wachen Nächten, kann ich schlafen. Ich schlafe traumlos, ohne Unterbrechung bis zum Morgen durch und um 6 Uhr schellte der Wecker von Ildefonso.
Kurze Zeit später, wir teilen uns zu dritt das Badezimmer, stehe auch ich auf und mein übliches Morgenprozedere startet. Es gibt einen Rest der Empanada von gestern und endlich mal kein dröges Brot, dazu einen Pulverkaffee.
Da es noch immer zu früh für den Aufbruch ist, gehe ich noch um unsere Unterkunft und erfreue mich an den hoch aufragenden Bergen hinter dem Haus. Die nächsten Etappen werden bergig, mit vielen Höhenmetern und ich freue mich darauf. Die Etappen vor denen ich den meisten Respekt habe stehen an.
Kurz hinter der Herberge biegt die Straße zum Kloster Santo Torribio ab – das Ende des Camino Lebaniego. Schade, dass ich gestern keine Energie mehr hatte zum Kloster zu laufen. Heute in der Frühe ist es geschlossen, ich kann es nicht besichtigen, ich kann mir dort keinen Stempel holen und auch keine Pilgerurkunde.
Nicht, dass die Pilgerurkunde nötig ist, ich weiß selbst, dass ich bis hierher gelaufen bin – aber sie hätte für mich dazu gehört, genau wie der Stempel dieses schönen Ortes.
Mein neuer Mitpilger ist seit dem Aufbruch heute morgen immer kurz hinter mir gelaufen und auch als ich mir die Klosteranlage von außen anschaue, weicht er nicht von meiner Seite.
Der Sonnenaufgang ist wunderschön, ich warte am Kloster bis die Sonne hinter den Bergspitzen hervorleuchtet. Ich liebe diese Sonnenaufgänge, die Berge funkeln und leuchten und auch in den letzten Tagen habe ich immer darauf gewartet, dass die Sonne am Horizont auftaucht.
Ildefonso kommt auf mich zu und sagt, dass wir weiter müssen. Warum müssen wir weiter, er kann doch auch ohne mich laufen? Es ist schön, nicht alleine zu sein, aber unsere Verständigung ist mehr als mühselig. Ich spreche nur rudimentär spanisch (wenn man überhaupt von rudimentär sprechen kann), Ildefonso spricht nur spanisch und kein englisch oder deutsch.
Hinter dem Kloster biegen wir so in einen Weg ein, es geht bergauf – ich habe den Weg an einer anderen Stelle vermutet und wäre nicht über diesen Weg gelaufen. Aber wenn mein Spanier sagt, wir müssen hierher… Ich denke nicht weiter über die Wegführung nach, es gibt Wegweiser, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir richtig sind. An einer Weggabelung sind zwei Ziele ausgeschildert und beide sagen mir nichts. Ildefonso gibt nach Blick auf sein Handy an, dass wir geradeaus müssen und so laufen wir geradeaus. Ich werde mich jeden Meter unsicherer ob der Wegführung. Der Weg ist schön, aber sind wir richtig? Ich packe mein Handy aus und mein Navi führt mich in die Gegenrichtung. Wir diskutieren mit Händen und Füßen, so wie man diskutiert, wenn man nicht die gleiche Sprache spricht und ich drehe um, Ildefonso zögert, kommt mir dann aber nach.
An der Wegabzweigung an der wir zuvor geradeaus gelaufen sind, biegen wir nun ab. Eine Klosterruine ist ausgeschildert, aber der Name der Ruine taucht nicht in der Wegbeschreibung auf, die ich gestern in Potes erhalten habe. Die Wegbeschreibung ist nur auf spanisch und hilft mir wenig. Da es sonst keine weiteren Wegweiser gibt, stapfen wir den steilen, schmalen Naturweg Richtung Klosterruine hinauf.
Schritt für Schritt geht es den steilen Berg hinauf zur Eremita San Pedro. Wieder gibt es keine Wegweiser, der Weg verläuft sich, wird immer unwegsamer und schwieriger zu laufen. Mir schwant fürchterliches und ich bin mir fast sicher, dass wir auf dem falschen Weg sind. Das Navi zeigt den Weg irgendwo in gegen gesetzter Richtung an. Wieder drehe ich um und gehe zurück. Der Weg ist abwärts schwerer zu laufen als aufwärts. Kurz bevor wir das Kloster Santo Torribio wieder erreichen, wie lange sind wir jetzt schon auf dem falschen Weg unterwegs gewesen?, finden wir einen Wegweiser und laufen zu einer weiteren Klosterruine. Dieses Mal bin ich mir sicher, dass wir richtig sind – nur Ildefonso glaubt wieder dass wir falsch sind. Warum verlasse ich mich auf die fragliche Wegführung einer mir fremden Person? Ich weiß es nicht. Vielleicht weil er einheimisch ist? Der Weg führt bergab und plötzlich dreht mein Mitpilger wieder um und läuft zur letzten Klosterruine Eremita Santa Catalina zurück. Er bittet mich Erik anzurufen.
Eigentlich wollte Erik heute einen Tag aussetzen, aber er ist heute morgen dennoch aufgebrochen, seine offenen Blasen fühlten sich besser an und er wird am Tagesende entscheiden und seinen Weg ggf. doch fortsetzen.
Ich habe keinen Empfang und so ruft Ildefonso Erik an. Wir erfahren, dass der Weg den wir gerade wieder zurück gelaufen sind, bergab an der Ruine, richtig war.
Also drehen wir wieder um, gehen den Weg den wir gekommen sind zurück und laufen durch den Wald an der Ruine bergab. Wir kommen wieder auf eine kleine Straße und dort finden wir erleichtert einen gut sichtbaren Wegweiser. Leider habe ich nicht auf die Uhr geschaut und leider habe ich den Weg nicht aufgezeichnet, ich werde nicht erfahren, wie viele Kilometer wir umsonst gelaufen sind – und dabei ist die heutige Tagesetappe 27km weit. Über kleine Wege, der Ausblick ist herrlich, die Sonne scheint vom blauen Himmel, geht es durch die Felder. Ildefonso hat sein Navi vor sich und sicherlich gibt es mehr als einen Weg nach Espinama, und schon wieder ergibt sich eine ähnliche Situation wie zuvor. Ich bin mir sicher, dass wir dem Weg in Richtung Lono folgen müssen, Ildefonso und sein Navi sagen, dass wir nach rechts müssen. Wieder lasse ich mich auf das Experiment ein. Der Weg ist wunderschön, Büsche, Blumen, Sträucher, Tiere am Wegesrand, aber kein Wegweiser.
Ildefonso läuft schnell und ohne Pause und ich Trottel folge ihm. Mein Navi zeigt inzwischen den gleichen Weg an, aber es ist nicht mehr die Wegführung wie am Morgen. Natürlich könnte ich das Navi die ganze Zeit laut laufen lassen, aber dass ist nicht das was ich möchte. Ich habe keine Lust, ständig hören zu müssen: in 100 Metern rechts, in 50 Metern rechts und jetzt rechts abbiegen. Es stört mich und meine Ruhe und bislang bin ich immer an meinen Etappenzielen angekommen. Wir laufen und laufen, ich bin mir unsicher, aber ich laufe weiter.
Vor uns taucht ein Dorf auf, es gibt eine Bar, und von der Zeit her, wäre ein Kaffee genau passend. Wir fragen nach dem Weg und erfahren, dass wir komplett falsch sind. Aber: auch von hier aus könnten wir nach Espinama laufen, so wie das Navi es anzeigt – es ist nur nicht die originale Wegführung.
Auch wenn wir falsch sind, lasse ich meine Credencial stempeln, am Brunnen fülle ich meine Wasserflasche auf und Ildefonso drängt zum Aufbruch. Wieder folge ich nicht meinem Wunsch nach einem Kaffee und einer Pause. Nach drei Stunden mit schnellem Tempo und einer Bar wäre es der richtige Moment für eine Auszeit.
Über eine Landstraße laufen wir in Richtung originaler Wegführung und in einem kleinen Weiler treffen wir auf einen gelben Pfeil. Wir sind erleichtert und wieder auf dem richtigen Weg. Es ist erst 11 Uhr und ich weiß nicht, wie viele Kilometer noch vor mir liegen, aber ich weiß eines: es sind schon mindestens 5 Kilometer an Zusatzwegen die wir durch die falsche Wegführung gelaufen sind.
Nach wir vor sind die Wegweiser sehr rar. Mal finden wir einen Hinweis, mal nicht. Der Weg führt in eine große Wiese, der Trampelpfad verschwindet irgendwo im Gras… Aber da die große Wiese durch einen Bach am Ende begrenzt ist, es keine Brücke gibt, müssen wir wahrscheinlich wieder auf die nicht weit entfernte Straße. Wir stapfen durch das Gras, am Ende öffnen wir ein Gatter um an einer weiteren Absperrung zu stehen, klettern drüber und sind wieder auf der Straße – wo wir irgendwann wieder einen Wegweiser finden.
Wir passieren eine Kapelle die dem heiligen Ildefonso gewidmet ist. Bis gestern habe ich diesen Namen noch nie gehört und hier, irgendwo im Nirgendwo stoße ich auf eine Kapelle mit diesem Namen.
Ich bin hungrig, aber ich gönne mir keine Pause. Ich möchte endlich ankommen. Ausblicke gibt es nicht wirklich. Der Weg führt mehr oder weniger parallel zur Straße, führt immer wieder bergauf neben der Straße um nach kurzer Zeit wieder abwärts auf die Straße zu führen. Dieses Spiel wiederholt sich mehrere Male. Straße, weg von der Straße und zur Straße zurück.
Und dann sehe ich begeistert das Straßenschild: 5,5 km bis Espinama. Ich freue mich, noch eine Stunde, dann bin ich endlich am Tagesziel.
Der Weg führt von der Straße in den Wald hinein, es geht ordentlich auf einem Forstweg bergauf und plötzlich lese ich ein Schild: Espinama, 12km, 4 Stunden zu Fuß.
Ich bin entsetzt und denke, es wird verschiedene Wege durch den Wald geben um nach Espinama zu kommen. 12Km, ist mehr als der doppelte Weg auf der Straße.
Leider bewahrheitet sich meine Vermutung nicht. Es gibt keinen Abzweig zur Straße, es geht Kurve um Kurve aufwärts und weg von der Straße. Wir laufen und laufen, es ist warm, ich bin verschwitzt, ich kann nicht mehr und mir reicht es.
Die Überlegung umzudrehen um zur Straße zurückzulaufen verwerfe ich, jetzt bin ich schon zu weit diesem Weg gefolgt. Aber dafür bin ich mir sicher: wir sind dieses mal richtig. Zwischendurch ergeben sich Blicke ins Tal, die Straße liegt tief unter mir und ist weit entfernt. Der Weg ist unspektakulär, ein breiter Forstweg, gut zu laufen, aber er zieht sich in die Länge.
Irgendwann geht es wieder abwärts und wir sind wesentlich schneller unterwegs, als das Schild mit der angegebenen Laufzeit. Aber auch der Abstieg zieht sich Kurve um Kurve in die Länge. Wir laufen und laufen flotten Schrittes voran und ich sehe zwischen den Bäumen ein Dorf und glaube mich am Ziel.
Aber auch dieses Dorf ist nicht Espinama. Wir sind auf dem ausgeschilderten Weg schon an Espinama vorbei gelaufen und müssen über die Straße noch fast 2km zu dem Dorf zurück laufen. Im Wald gab es keinen anderen Abzweig um direkt den Zielort zu erreichen. Wissend dass es nicht mehr weit ist, sammel ich meine letzte Energie und sprinte über die Straße und erreiche Espinama. Die Unterkunft liegt versteckt in einer Seitenstraße, es gibt eine Katze und der Himmel bedeckt sich. Die touristische Herberge ist gemütlich, in unserem Zimmer stehen 5 Etagenbetten, jeder hat einen kleinen Schrank für das Gepäck, außer Erik ist niemand in der Herberge.
Nach einer Dusche und einer kurzen Ruhepause geht es mir besser. Die Hospitaliera teilt uns mit, dass sie die Betreiberin des kleinen Supermarktes ist, und dass sie diesen nachher für uns öffnet. Dankbar, dass man uns die Möglichkeit einräumt, einige Kleinigkeiten kaufen zu können, gehen wir zu dritt mit unserer Herbergsmutter zum Dorfladen. Viel Auswahl gibt es nicht. Ich kaufe etwas Joghurt, Obst, Brot und Brotbelag und ein kleines Eis.
Das Eis esse ich direkt auf dem Rückweg, den Rest hebe ich für die Abendmahlzeit und morgen auf.
In Espinama kann man nicht viel machen. Auf einer zweiten Spazierrunde nehme ich mein Tagebuch mit, setze mich endlich auf eine schöne Tasse Kaffee unter einen Sonnen/Regenschirm und schreibe meine heutige Etappe auf.
Morgen, auf dem Weg nach Portilla de la Reina, gibt es 2 Wegvarianten.
Weg 1 führt über Fuente De, die Variante ist etwas kürzer, laut Personal in der Bar aber wesentlich steiler und anstrengender. Die Abkürzung ist auf der Karte gestrichelt, der „Originalweg“ so wie die gesamte Strecke durchgehend gekennzeichnet. Finde ich die Abkürzung, bin ich der Steigung gewachsen und ist dieser Weg ausgeschildert? Ich weiß es nicht. Was ich wohl aber weiß, ich lasse mich auf keine Experimente ein, ich folge meinem Instinkt und den Wegweisern.
Es war nicht geplant die ganze Strecke mit Ildefonso zu laufen, aber es hat sich so ergeben und ich bin nicht meinem Bauchgefühl gefolgt. So möchte ich den Weg nicht laufen. Gesellschaft ist schön, aber nicht unter diesen Bedingungen. Ildefonso ist lieb und nett, tut mir nichts, aber ich bin ihn nicht los geworden. Bin ich absichtlich langsam gelaufen, hat er auf mich gewartet. Brauche ich ihn oder braucht er mich? Bislang bin ich gut alleine zurecht gekommen. Es ist nett, am Etappenziel bekannte Gesichter zu treffen, es ist schön sich auszutauschen – aber heute war es nicht mein Laufstil, nicht mein Tempo und ich möchte meinen Weg gehen. Verlaufen hätte ich mich wahrscheinlich auch alleine, aber ich wäre meinem Instinkt gefolgt, der mir sagte: es kann nicht richtig sein.
Erik pausiert morgen definitiv. Seine Blasen sind offen, er hat Schmerzen, humpelt und benötigt aus gesundheitlichen Gründen eine Pause.
Dass dieser Wegabschnitt noch einsamer wird, als der Lebaniego ist mir bewusst. Vielleicht gibt es noch andere Wanderer oder Pilger, vielleicht übernachten diese im Hotel, vielleicht gibt es Tageswanderer – mal schauen, wen ich noch treffe und kennenlerne. Die erste Woche ist rum – ich komme gut vorwärts und bislang läuft alles wie geplant.
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